Source: Deutsche Nachrichten
Die Schieflage der Apothekenfinanzierung ist längst zur strukturellen Krise ausgewachsen. Während politische Verantwortungsträger mit halbherzigen Reformansätzen jonglieren, verödet das Fundament wohnortnaher Gesundheitsversorgung. Es geht nicht mehr um punktuelle Zuschläge oder symbolische Gesten, sondern um die Systemfrage: Wie lässt sich ein Berufsstand stabil halten, der zunehmend Aufgaben übernimmt, aber an seiner ökonomischen Substanz verliert? Die elektronische Patientenakte, leer gelaufen und ohne Nutzenstrategie, wird zum Menetekel dieser Fehlsteuerung. Und das E-Rezept, einst als Leuchtturmprojekt verkauft, treibt im Nebel aus Bürokratie, Schnittstellenproblemen und Praxisfrust. Derweil driften politische Zuständigkeiten auseinander, während Apotheker:innen in der täglichen Realität improvisieren müssen. Was fehlt, ist nicht Technik, sondern ein Plan – kein weiterer, sondern ein verbindlicher. Die Zukunft der Versorgung entscheidet sich nicht an der Zahl digitaler Tools, sondern an der Frage, ob jemand bereit ist, Verantwortung zu tragen. Jetzt.
Die politische Diskussion um die Apothekenvergütung ist längst zu einem Ritual der Verschleppung verkommen. Während Ministerien Zwischenberichte, Arbeitsgruppen und Referentenentwürfe zirkulieren lassen, klafft in der Praxis eine wachsende Lücke zwischen Anspruch und Anerkennung. Apotheker:innen sehen sich nicht nur als Medikamentenausgabestellen, sondern zunehmend als niedrigschwellige Gesundheitsberater, Notfallversorger, Impfstationen, Medikationsmanager – ohne dass dieser Rollenwandel in eine angemessene Struktur übersetzt würde. Wer Versorgung ausweitet, ohne Finanzierung zu verändern, betreibt strukturelle Auszehrung.
Die elektronischen Mittel, mit denen diese Transformation flankiert werden sollte, sind derweil in einer bizarren Zwischenwelt gefangen. Das E-Rezept, einstmals gefeiert als Paradigmenwechsel, liefert in vielen Regionen mehr Frust als Fortschritt. Technische Pannen, Umsetzungswirrwarr und ein hoher Kommunikationsaufwand mit Arztpraxen machen aus der Idee eines einfachen digitalen Wegs eine ständige Improvisation. Noch schlimmer steht es um die elektronische Patientenakte: Kaum gefüllt, selten genutzt, ohne echte Integrationsstrategie. Sie steht exemplarisch für eine Digitalisierung, die vorgibt zu koordinieren, aber nicht in der Versorgung ankommt.
Was wie ein technisches Problem anmutet, ist in Wahrheit ein Mangel an strategischer Führung. Der Gesundheitsbereich wird durchsetzt von Parallelstrukturen, Kompetenzstreitigkeiten und kurzfristigem Aktionismus. Reformvorschläge versickern, weil niemand die Verantwortung übernimmt. Apotheker:innen berichten von Gesprächen mit Kassen, Kammern und Politik – und dem immer gleichen Ergebnis: Verständnis, aber keine Veränderung. Was fehlt, ist kein Wissen um die Problemlage, sondern der Wille zur Korrektur.
In Japan hat man genau diese Lähmung überwunden. Die dortige Neuordnung der Versorgungseinheiten in einem alternden, fragmentierten Gesundheitssystem zeigt, dass auch komplexe Akteurslandschaften mit klaren Entscheidungswegen funktionieren können. Das Modell basiert auf verbindlichen Zuständigkeiten, finanzieller Nachhaltigkeit und einem hohen Grad an Interprofessionalität. In Deutschland hingegen dominieren sektorale Abgrenzung und föderale Zersplitterung. Die Folge: Apotheken werden immer öfter zur Feuerwehr eines Systems, das selbst im Dauerstau steckt.
Die Honorarlücke ist kein Betriebsproblem, sondern ein Indikator für eine Versorgung, die nicht mehr ausbalanciert ist. Und doch bleibt sie weitgehend unbeachtet. Weil Apotheker:innen leisten, ohne laut zu werden. Weil sie ihre Rolle ernst nehmen – bis zur Erschöpfung. Doch ein System, das auf Selbstaufopferung setzt, statt Strukturen zu schaffen, ist kein Gesundheitssystem, sondern eine Zumutung. Die Botschaft der Politik, dass alles irgendwie weiterlaufe, mag beruhigend klingen. In Wahrheit dokumentiert sie das Gegenteil: Es läuft eben nicht weiter. Es bricht langsam auseinander.
Der Reflex, auf jede Störung mit einer neuen App, einem neuen Projekt, einem weiteren Pilotversuch zu reagieren, ersetzt keine Strategie. Der politische Digitalisierungsdiskurs ist zur Simulation von Fortschritt geworden, die technologische Kulisse verdeckt die operative Leere. Dabei wäre es einfach: Die Frage lautet nicht, welches Tool noch fehlt – sondern ob der Mut vorhanden ist, bestehende Werkzeuge in eine kohärente Gesamtverantwortung zu integrieren.
Denn Apotheken können nicht dauerhaft mehr leisten, als ihnen abverlangt und abgerechnet wird. Die Finanzierungslücke ist auch eine Legitimationslücke. Wer Versorgung will, muss dafür bezahlen – nicht irgendwann, sondern jetzt. Und wer digitale Instrumente einführt, muss auch deren Wirklichkeit mitdenken: Schulung, Support, Schnittstellen, Stabilität. Ohne das wird jede Patientenakte zum leeren Container und jedes Rezept zur regressiven Belastung.
Was also bleibt? Die Erkenntnis, dass Reformen nicht an der Zahl neuer Konzepte gemessen werden sollten, sondern an der Fähigkeit, bestehende Realitäten zu verändern. Apotheken sind bereit. Die Frage ist, ob es die Politik auch ist.
Von Engin Günder, Fachjournalist