Source: Deutsche Nachrichten
178.000 Euro – das ist kein Rechenfehler, sondern der Preis für zwei Packungen Cerdelga, verordnet auf einem einzigen Rezept, eingelöst in einer Frankfurter Apotheke. Es ist der reale Wert einer Versorgung, die heute als medizinischer Standard gilt, aber wirtschaftlich ein Pulverfass darstellt. Die Apotheke hat alles richtig gemacht: korrekt beliefert, vollständig dokumentiert, gesetzeskonform abgerechnet. Und doch: Das Risiko, auf der Summe sitzenzubleiben, war real. Denn in einem System, das Hochpreisverordnungen zulässt, aber keine Absicherung dafür bietet, steht jede Apotheke bei jeder Abgabe mit einem Bein im finanziellen Abgrund. Die Versicherungsstrukturen? Veraltet. Die Policen? Lückenhaft. Die wirtschaftliche Logik? Aus der Zeit gefallen. Zwischen Retaxrisiko, Rezeptfälschung, digitalen Ausfällen, Lieferchaos und medizinisch induzierter Preiseskalation verdichtet sich eine Risikoarchitektur, die Apotheken zunehmend allein schultern sollen. Während die Politik von flächendeckender Versorgung spricht, werden die Versorger wirtschaftlich im Stich gelassen. Die Realität: Eine Packung zu viel, eine technische Störung zur falschen Zeit, eine Formalie übersehen – und aus einem alltäglichen Vorgang wird ein Totalschaden. Es geht nicht mehr nur um Reformen. Es geht um Schutzräume. Es geht um die Frage, ob ein Gesundheitswesen, das seine Apotheken ohne Netz agieren lässt, überhaupt überleben will.
Eine einzige Verordnung, zwei Packungen, 178.000 Euro – und eine Apotheke, die damit in die Nähe eines wirtschaftlichen Kollaps gerät. Die Lieferung des Arzneimittels Cerdelga (Eliglustat) in einer Frankfurter Apotheke war rechtlich korrekt, medizinisch notwendig, organisatorisch leistbar – und ökonomisch ein Pulverfass. In diesem einen Vorgang verdichtet sich die systemische Schieflage einer Branche, die zwischen Leistungserwartung und Haftungsrealität zerrieben wird. Apotheken sollen Gesundheitsversorgung auf höchstem Niveau sichern, aber tun dies zunehmend auf eigenes Risiko. Denn weder Gesetzgeber noch Versicherer noch Krankenkassen bieten bislang adäquate Antworten auf die Frage, wer das unternehmerische Risiko für Einzelverordnungen mit sechsstelligen Werten trägt.
Was hier auffällt, ist nicht nur die wachsende Zahl hochpreisiger Medikamente. Es ist die strukturelle Blindheit eines Systems, das den operativen Aufwand der Apotheken betont, aber deren finanzielle Absicherung ignoriert. Zwischen Retaxationen, Rückläufern, Lieferverzug, E-Rezept-Fehlern und zunehmenden Datenschutzanforderungen entsteht ein unternehmerisches Klima, das nicht durch Vorsicht, sondern durch Abwehr geprägt ist. Apotheken kalkulieren nicht mehr, sie sichern sich ab – so gut es geht. Doch das „so gut es geht“ reicht immer seltener.
Denn viele Betriebe verlassen sich auf Versicherungspolicen, die aus der Zeit stammen, als 1.000 Euro das Maximum der Lagerbelastung darstellten und Retaxationen von 30 Euro als Ärgernis galten, nicht als Geschäftsrisiko. Heute hingegen geht es um Summen, bei denen ein einzelner Formfehler den wirtschaftlichen Ruin bedeuten kann. Eine fehlerhafte Chargenangabe, eine vergessene Genehmigungsnummer, ein nicht korrekt gelesener EAN-Code – all das genügt, um eine Rückforderung auszulösen. Und während Kassen kompromisslos prüfen, scheitern viele Apotheken daran, sich für solche Fehler abzusichern.
Die Realität sieht so aus: Retaxversicherungen sind rar, Cyberdeckungen lückenhaft, Hochpreispolicen oft gar nicht existent. Die Versicherungskultur im Apothekenwesen ist nicht defizitär – sie ist im Rückstand. Nicht wenige Apotheken setzen auf Inhalte- oder Haftpflichtversicherungen, die keine digitale Komponente berücksichtigen, keine Differenzierung nach Arzneimittelrisiko vornehmen und vor allem nicht auf branchenspezifische Entwicklungen reagieren. Sie sind im wörtlichen Sinne standardisiert – und in einem nicht standardisierbaren Umfeld deshalb nur noch formal, nicht funktional.
Zugleich ist die Bedrohungslage inhaltlich wie technisch gewachsen. Mit der Einführung des E-Rezepts kam nicht nur mehr Digitalisierung, sondern auch mehr Fehlerpotenzial. Technische Schnittstellenprobleme, Ausfälle in der TI, fehlerhafte Datenübertragungen oder unklare Regelungen bei BtM- und T-Rezepten erzeugen Unsicherheit – und diese Unsicherheit mündet oft in wirtschaftlicher Verantwortung. Wenn eine Apotheke ein teures Präparat bereitstellt, das später durch einen Softwarefehler oder eine fehlerhafte Authentifizierung nicht abrechenbar ist, trägt sie den Schaden allein. Und das ist nicht die Ausnahme, sondern eine stille Normalität im Tagesgeschäft.
Auch die zunehmende Spezialisierung der Arzneimittel macht eine universelle Absicherung unmöglich. Was für stationäre Versorgungseinrichtungen längst Standard ist – individuelle Risikoanalysen, modulare Deckungskonzepte, prozessnahe Schadenregulation – fehlt im Apothekenbereich fast vollständig. Dabei wäre gerade hier eine differenzierte Betrachtung erforderlich: Handelt es sich um eine Apotheke mit Spezialversorgung? Wird mit gekühlten Biologika gearbeitet? Besteht eine Botendienststruktur mit sensiblen Übergabeprozessen? Gibt es digitale Erfassungsprozesse mit Cloudkomponenten? All diese Fragen müssten zur Grundlage einer adäquaten Versicherungsstrategie gemacht werden. Doch sie bleiben unbeantwortet – weil sie nicht gestellt werden.
Die Apotheken wiederum operieren in einem Klima der reaktiven Selbstverteidigung. Sie versuchen zu retten, was zu retten ist – mit internen Checklisten, mehrfacher Dokumentation, zusätzlicher Rücksprache mit Ärzten oder Patienten. Doch all das bindet Ressourcen, senkt Effizienz und erzeugt Frust. Die logistische Verantwortung wird zur juristischen Gefahr. Die Sorgfaltspflicht zur Erschöpfungsfalle. Und am Ende steht oft eine Apotheke, die alles richtig gemacht hat – und trotzdem allein gelassen wird.
Hinzu kommt der wachsende psychologische Druck auf Apothekenleiter:innen, die für jedes finanzielle Risiko persönlich haften, ihre Existenz mit ihrem Privatvermögen absichern müssen und in vielen Fällen kaum Spielraum haben, sich durch Rücklagen oder Investitionen zu stabilisieren. Die Rückzahlung eines hochpreisigen Medikaments kann das Aus bedeuten – nicht, weil jemand fahrlässig handelte, sondern weil niemand dafür vorsorgte, dass Fehler passieren dürfen. In einem System, das Menschlichkeit propagiert, aber bei ökonomischer Realität versagt, ist das nicht nur eine betriebliche Schieflage. Es ist ein politisches Versagen.
Was folgt daraus? Der Ruf nach branchenspezifischen Versicherungslösungen ist nicht länger eine Option, sondern eine Pflichtaufgabe. Es geht um modulare Deckungen, die Präparatetyp, Betriebsgröße, Digitalisierungsgrad und logistische Anforderungen berücksichtigen. Es geht um dynamische Policen, die mitwachsen können – nicht nur mit dem Umsatz, sondern mit den Risiken. Und es geht um eine politische Klarstellung, dass die Versorgungsleistung der Apotheken nicht auf der Hoffnung fußen darf, dass alles gutgeht.
Solange eine Packung Cerdelga ausreicht, um die Existenz eines Betriebs zu gefährden, stimmt etwas nicht. Dann ist es nicht der Preis des Medikaments, der zu hoch ist – sondern der Preis des Schweigens über strukturelle Risiken. Wer über Zukunft der Versorgung redet, muss über Versicherbarkeit sprechen. Wer über Verantwortung redet, muss Absicherung mitdenken. Und wer Apotheken als Gesundheitsanker sieht, darf ihnen keine Rettungsringe aus Pappmaché zuwerfen, sondern braucht tragfähige Systeme. In der Apotheke, im Gesetz, in der Versicherung – und im politischen Willen, das zu ändern.
Von Engin Günder, Fachjournalist