Apotheken-News: Forschung verteidigen, Politik strukturieren, Standort neu verankern

Source: Deutsche Nachrichten
Deutschland investiert so viel in Forschung wie nie zuvor – und verliert dennoch an Boden. Die Chemie- und Pharmabranche erreicht mit 16,5 Milliarden Euro ein neues Rekordniveau bei ihren F&E-Ausgaben, aber die internationale Wettbewerbsdynamik lässt die Erfolge verblassen. Während asiatische Märkte ihre Innovationszyklen beschleunigen und technologische Souveränität durch strategische Bildungspolitik untermauern, bleibt hierzulande der Fortschritt Stückwerk. Bildungsdefizite im MINT-Bereich, politische Unentschlossenheit und ein Strukturwandel ohne Richtung belasten die Perspektive des Standorts. Parallel entstehen bundesweit Modellprojekte gegen synthetische Opioide – wie in Hannover, wo kommunale Prävention über Selbsttests, Naloxon-Schulungen und Drogenanalysen neu gedacht wird. Die Relevanz solcher Maßnahmen steigt angesichts wachsender Gesundheitsrisiken – wie die jüngsten Nitazen-Vorfälle zeigen, bei denen Rettungsdienste und Apotheken an Belastungsgrenzen stoßen. Zugleich verunsichern rechtliche Entscheidungen wie das Urteil des LG Saarbrücken, das Impfstoffklagen ohne Anerkennung individueller Schädigung abwies. All das trifft auf eine Bevölkerung, die zunehmend um gesundheitliche Selbstbestimmung ringt. Auch im System selbst zeigen sich Risse: Die PKV erhöht drastisch ihre Beiträge im Standardtarif, das Apothekerversorgungswerk schreibt Millionen ab, und die ABDA kämpft um Balance zwischen Konsolidierung und Rückhalt. Der Strukturwandel hat begonnen – doch ob er trägt, entscheidet sich erst, wenn Forschung, Versorgung und Verantwortung neu justiert werden.

Die deutsche Chemie- und Pharmaindustrie investiert 2025 so viel Geld in Forschung und Entwicklung wie nie zuvor: 16,5 Milliarden Euro werden laut Verband der Chemischen Industrie (VCI) aufgewendet – ein Plus von 400 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr. Doch während die Branche stolz auf diesen Rekord verweist, mehren sich die Zweifel, ob die Mittel überhaupt noch ausreichen, um international Schritt zu halten. Denn zugleich droht ein Verlust an Standortqualität, regulatorischer Planbarkeit und wissenschaftlicher Anschlussfähigkeit – insbesondere gegenüber dem asiatischen Raum.

Was sich hier andeutet, ist mehr als ein ökonomisches Leistungsgefälle – es ist eine strategische Verschiebung der Innovationsachse. Während Länder wie Südkorea, China oder Singapur längst zielgerichtet ihre MINT-Förderung ausgebaut und technologiegetriebene Industrien aktiv flankiert haben, verharrt Deutschland zwischen Föderalismus und Verzagtheit. Der wachsende Wettbewerb um Forschungstalente, patentrelevante Technologien und neue Wirkstoffplattformen trifft auf ein Bildungssystem, das strukturell auf Kante genäht ist. Lehrkräfte fehlen, Curricula veralten, und der politische Wille zur Systemreform erschöpft sich zu oft in Modellversuchen ohne Wirkungskontinuität.

In dieser Gemengelage ist es fast paradox, dass auf kommunaler Ebene neue Impulse entstehen: Hannover startet mit „so-par“ ein Modellprojekt gegen synthetische Opioide, das erstmals einen systemischen Präventionsansatz verfolgt. Statt auf repressive Maßnahmen zu setzen, wird auf Aufklärung, Selbsttests und Notfallmedikation wie Naloxon fokussiert. Dass dieses Projekt bundesweit ausstrahlen soll, zeigt die Lücke, die staatliche Stellen bislang offengelassen haben. Synthetische Opioide wie Nitazene – potenter als Fentanyl, toxischer als jede bekannte Straßendroge – bringen nicht nur Konsumenten in Lebensgefahr, sondern sprengen auch die etablierten Notfallroutinen von Apotheken und Rettungsteams.

Hier zeigt sich exemplarisch, was derzeit fehlt: ein kohärentes Risikomanagement, das zwischen Pharmaüberwachung, kommunaler Gesundheitspolitik und toxikologischer Krisenprävention vermittelt. Stattdessen reagieren die Systeme mit institutioneller Überforderung – nicht zuletzt, weil sie durch Rechtsprechung und Haftungsfragen zusätzlich verunsichert werden. Das Urteil des Landgerichts Saarbrücken zu Klagen gegen Impfstoffhersteller liefert dafür ein bedrückendes Beispiel: Die Kammer wies alle Forderungen ab, da der Nachweis eines Produktfehlers nicht erbracht werden konnte. Doch während die juristische Klarheit überwiegt, bleibt die soziale Wahrnehmung: Wer leidet, aber nicht anerkannt wird, verliert Vertrauen – in das Produkt, das System und seine Institutionen.

Dieses Vertrauensvakuum verstärkt sich durch wirtschaftliche Strukturprobleme. Die Beitragserhöhung im PKV-Standardtarif zum 1. Juli 2025 um 25 Prozent trifft ausgerechnet jene Gruppe, die sozialpolitisch als besonders schutzbedürftig gilt: Ältere Versicherte mit langen Laufzeiten. Statt Entlastung durch Systemangleichung oder Reform, gibt es administrative Belastung. Und auch im Versorgungsbereich zeigen sich Risse: Das Apothekerversorgungswerk Schleswig-Holstein muss zum zweiten Mal in Folge Millionen abschreiben – diesmal 33 Millionen Euro, verursacht durch fragwürdige Mezzanine-Investments und die Auswirkungen steigender Zinsen. Wer Sicherheit verspricht, aber Verluste verschweigt, gefährdet nicht nur die Renten, sondern auch das Vertrauen in die Finanzstruktur heilberuflicher Systeme.

Immerhin: Die ABDA scheint aus dieser Krise politische Stärke ziehen zu wollen. Der Haushaltsvorschlag für 2026 sieht eine moderate Beitragserhöhung um 3,9 Prozent vor – bei gleichzeitiger Unterschreitung des ursprünglichen Zielwerts. Möglich wird das durch Einsparungen beim Sachaufwand und Rückflüsse aus Tochterunternehmen. Doch auch hier bleibt die Frage: Ist diese Konsolidierung eine strategische Kurskorrektur – oder bloß eine kosmetische Zwischenbilanz?

Was sich durch diesen Bericht zieht, ist ein Muster wachsender Systemfragilität. Forschung, Versorgung und Vertrauen befinden sich in einem kritischen Interaktionsverhältnis: Mehr Geld sichert keine Dynamik, bessere Prävention ersetzt keine strukturelle Steuerung, und gerichtliche Klarheit stiftet keine gesellschaftliche Anerkennung. Der politische Umgang mit diesen Spannungen entscheidet darüber, ob der Standort Deutschland seine industrielle Stärke behaupten kann – oder ob er in der selbst erzeugten Komplexität seiner Zuständigkeiten versinkt.

Von Engin Günder, Fachjournalist