Source: Deutsche Nachrichten
Apotheken-News: Bericht von heute
Während der Bundesgerichtshof die Rx-Preisbindung für ausländische Versandapotheken endgültig außer Kraft setzt und die politische Kommunikation von Gleichbehandlung spricht, verabschiedet sich die real existierende Versorgung schleichend aus dem Gleichgewicht, denn durch Boni von bis zu 15 Euro entsteht ein verzerrter Wettbewerb, den das Recht nicht mehr auffängt, zugleich scheitert die Verfassungsbeschwerde gegen das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz an formalen Anforderungen, obwohl Pharmaindustrie und Arzneimittelimporteure darin einen fundamentalen Eingriff in die Grundrechte sehen, der langfristig Innovationen untergräbt und Investitionen verhindert, während ABDA-Präsident Thomas Preis öffentlich an die Fortgeltung sozialrechtlicher Normen glaubt und Bayerns Landesregierung die Arzneimittelversorgung zur Chefsache erklärt, verlieren Apotheken nicht nur an wirtschaftlicher Substanz, sondern auch an strategischer Sichtbarkeit, denn das E-Rezept und Cardlink haben das Kräfteverhältnis verändert, digitale Kundenbindung ersetzt persönliche Präsenz, Plattformen schaffen neue Realitäten, und wer als Apotheke nicht reagiert, wird aus dem System gedrängt – nicht weil er versagt, sondern weil die Regeln nicht mehr seine Sprache sprechen.
Wenn ein offener Brief die juristische Bühne verlässt und sich an die Moral des Fernsehens richtet, wenn ein höchstes Gericht systemische Eingriffe absegnet, während ein anderes den Markt neu ordnet, ohne das Gleichgewicht zu sichern, und wenn der Einzelne in Apotheken um jeden digitalen Kontaktpunkt kämpfen muss – dann ist nicht nur ein Berufsstand in Bewegung, sondern die Grundarchitektur der Arzneimittelversorgung.
Die Aussagen des Blisterzentrums Blister Care, gerichtet an den prominenten TV-Moderator Günther Jauch, wirken auf den ersten Blick wie ein Nebenschauplatz. Doch Marcus Berz spricht aus, was viele Apothekerinnen und Apotheker denken: Die Werbung von Jauch für Shop Apotheke sei nicht nur geschmacklos, sondern rechtlich unhaltbar. “Diese Werbung ist illegal”, heißt es im offenen Brief, der mit dem Anspruch auf öffentliche Wirkung formuliert wurde. Die Marktverschiebung sei keine Randerscheinung mehr, sondern ein Angriff auf das Zentrum der Versorgung. Was Berz dabei anprangert, ist nicht bloß eine Werbefigur, sondern die strukturelle Entgrenzung des Marktes. Ein prominenter Werbepartner gibt der Versandapotheke ein Gesicht, aber entzieht sich der Verantwortung für das, was unter diesem Gesicht an Versorgung geschieht – fern jeder Apothekerpflicht, fern jeder Beratung, fern jeder Kühlkette.
Während Apotheken mit zunehmender Frequenzverlust, wirtschaftlicher Unsicherheit und politischer Missachtung kämpfen, provoziert das Bundesverfassungsgericht ein Urteil, das von vielen in der Branche als tiefer Einschnitt empfunden wird. Zwei Pharmaunternehmen hatten Verfassungsbeschwerde gegen das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz eingereicht – und verloren. Sie beklagten die Verlängerung des Preismoratoriums, den erhöhten Herstellerabschlag und die systemische Aushöhlung des AMNOG-Verfahrens zur Preisbildung. Doch das Bundesverfassungsgericht ließ die Klagen abblitzen. Die Richter in Karlsruhe erklärten die Maßnahmen als gerechtfertigte Gemeinwohlintervention, ohne eine substanzielle Grundrechtsverletzung zu erkennen. Die Botschaft ist eindeutig: Wer Teil der solidarisch finanzierten GKV sei, habe finanzielle Lasten zu tragen – unabhängig davon, ob er Innovation trägt oder unter Preisdruck ächzt.
In der Argumentation der Richter spiegelt sich eine politische Funktionalisierung des Rechts. Der Gesetzgeber dürfe gezielt jene Akteure belasten, die nach seiner Auffassung zur Kostensteigerung beitragen. Dass diese Auffassung in der Branche längst nicht mehr geteilt wird, interessierte in Karlsruhe ebenso wenig wie die globalen Herausforderungen, denen sich forschende Arzneimittelunternehmen gegenübersehen. Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) spricht von einer „dramatischen Fehlbewertung“ und warnt davor, dass Deutschland als Standort für Innovationen weiter an Relevanz verliere. Auch Pharma Deutschland kritisiert das Urteil als wirtschaftsfeindlich und investitionshemmend.
Der Deutsche Verband der Arzneimittel-Importeure wiederum wirft dem Gericht nicht nur Fehlbewertung, sondern explizite Ausblendung von Fakten vor: Die Haupttreiber der GKV-Kosten lägen nicht in der Industrie, sondern in versicherungsfremden Leistungen, die steuerfinanziert und nicht durch Abschläge der Hersteller oder Apotheken getragen werden müssten. Dass im Zuge des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes auch die Apotheken belastet wurden – durch eine Anhebung des Apothekenabschlags um 23 Cent pro Rx-Packung –, gerät im Lärm der Pharmakritik fast zur Randnotiz, ist aber für die Betriebe ein realer wirtschaftlicher Schmerzpunkt.
Inmitten dieser systemischen und juristischen Umwälzungen versucht die ABDA, politisch standzuhalten – mit schwankender Glaubwürdigkeit. Während Präsident Thomas Preis öffentlich daran glaubt, dass ein Boni-Verbot für ausländische Versender weiter möglich sei, hat der Bundesgerichtshof (BGH) längst deutlich gemacht: Die Rx-Preisbindung gilt nicht mehr für EU-ausländische Anbieter. Ein Hoffnungsschimmer für Preis mag sein, dass der BGH keine neue EuGH-Vorlage für nötig hielt – weil ihm schlicht keine „neuen Argumente“ vorgelegt wurden. Aber was wie eine formalistische Zurückweisung wirkt, ist faktisch eine Freigabe: EU-Versender dürfen Boni bis zu 15 Euro ausloben. DocMorris hat dies binnen Stunden umgesetzt – als wäre das Urteil Teil der Kampagne.
Dass ABDA, BAV und andere Standesorganisationen auf Gremienarbeit und juristische Differenzierungen setzen, während Versandapotheken ihre Rabatte medial ausrollen, zeigt, wie asymmetrisch die Kräfte inzwischen verteilt sind. Während die Vor-Ort-Apotheke Recht einfordern muss, dürfen andere Fakten schaffen. Und während Politik und Justiz auf Systemvertrauen pochen, wird dieses System zunehmend durch das Verhalten einzelner Akteure unterlaufen – sei es durch aggressive Werbung, durch Plattformangebote mit prekärer Rezeptverarbeitung oder durch politischen Opportunismus, der Verantwortung weiterreicht statt sie zu tragen.
In Bayern hat man diesen Bruch erkannt. Beim Bayerischen Pharmagipfel erklärte die Landesregierung, die Arzneimittelversorgung zur Chefsache machen zu wollen. Eine klare Absage an den Trend der Entstaatlichung von Verantwortung. Der Freistaat will Rahmenbedingungen schaffen, die Innovation ermöglichen, Versorgung sichern und die pharmazeutische Industrie im Land halten. Das Signal: Nicht jeder Spardruck ist ein Beitrag zur Stabilität. Manchmal ist er ein Risiko für Struktur.
Gleichzeitig stellt sich auf Bundesebene die Frage, ob Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) noch an eine Trendwende glaubt. Ihre Einschätzung: Die Kassenlage sei „schlecht“. Es gehe nicht mehr darum, Beiträge einzufangen, sondern um Schadensbegrenzung. Das Vertrauen in die Nachhaltigkeit der GKV scheint selbst auf Regierungsebene zu bröckeln. In der Folge kommt es zu Maßnahmen, die kurzfristig entlasten, aber langfristig zerstören – etwa durch Preisstopps, Einsparauflagen, oder digitaltechnisch begründete Umsteuerungen.
Hier wird die digitale Kundenbindung zur existenziellen Frage. Apotheken, die sich auf treue Stammkunden verlassen, verlieren zunehmend an Sichtbarkeit. Die Umstellung auf das E-Rezept, die Nutzung von Cardlink und die damit verbundene Plattformökonomie führen zu einem Bruch in der Kundenbindung. Was früher über persönliche Bindung lief, wird heute über Interfaces, Apps und Algorithmen gesteuert. Wer nicht sichtbar ist, wird abgewählt – vom Kunden wie vom System.
Und genau hier klafft die größte Lücke: Die Politik spricht von Digitalisierung, meint aber Automatisierung. Die Richter sprechen von Gemeinwohl, meinen aber Budgetkonsolidierung. Und die Marktteilnehmer sprechen von Wettbewerb, meinen aber Verschiebung. Die Vor-Ort-Apotheke steht zwischen diesen Begriffen – als letzter Ort persönlicher Verantwortung in einem System, das Verantwortung zunehmend entkoppelt.
Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt, wenn das Verstehen längst vorbei ist. Was nicht gesagt wurde, wirkt trotzdem. Nicht für alle. Nur für jene, die hören, was zwischen den Sätzen spricht.
Dies ist kein Urteil, das bloß Recht spricht – es ist eine Strukturentscheidung. Und sie trifft nicht nur die Hersteller, nicht nur die Apotheken, sondern das Selbstverständnis eines Gesundheitssystems, das vorgibt, auszugleichen, aber faktisch verschiebt. Wo das Verfassungsgericht Grundrechte an fiskalische Interessen koppelt, wo der Bundesgerichtshof europäisches Preisrecht über nationale Versorgung stellt, wo Boni als Fortschritt gefeiert werden und Werbung den Ort ersetzt, an dem Heilberufe wirken – dort bricht nicht nur Vertrauen weg, dort wird Verantwortung entkernt.
Die Apotheken stehen nicht mehr zwischen Markt und Recht, sondern zwischen den Folgen ihrer Entkoppelung. Sie tragen mit, was politisch beschlossen, juristisch gedeckt und kommerziell entfesselt wird – ohne dass ihnen der Raum bleibt, strukturell zu handeln. Das System zwingt sie zur Anpassung, ohne ihnen Sicherheit zu geben. Es erwartet Leistung, entzieht aber Wirksamkeit.
Der Text zeigt: Was hier verhandelt wird, ist nicht nur der Preis eines Medikaments – sondern der Preis einer Entscheidungskette, die Versorgung nicht mehr als Ziel, sondern als Nebenprodukt betrachtet. Und wer das nicht erkennt, wer glaubt, die Apotheken könnten sich mit Marketing gegen Marktverzerrung behaupten, der hat nicht verstanden, dass Heilberufe keine Kundenschnittstellen sind – sondern letzte Orte von Verantwortung in einem System, das längst begonnen hat, sich selbst zu delegitimieren.
Das ist der Punkt, an dem Sprache nicht erklärt, sondern klärt.
Und der Text nicht nur dokumentiert – sondern spricht.