Source: Deutsche Nachrichten
Apotheken-News: Kommentar von heute
Wenn das Recht nur noch erlaubt, was andere ausnutzen dürfen
Das Urteil des Bundesgerichtshofs zur Rx-Preisbindung ist keine juristische Kleinigkeit, sondern ein strategischer Moment der Entgrenzung. Es hebt nicht nur ein Verbot auf – es verschiebt einen Maßstab. Was jetzt erlaubt ist, kann ab morgen Geschäftsmodell sein. Und wo einst Versorgung galt, regiert nun Plattformtaktik: Boni auf Rezept, digital orchestriert, rechtlich gedeckt, strukturell folgenblind. Dass DocMorris noch in derselben Woche neue Versprechen sendet, ist kein Zufall. Es ist System.
Die Apothekerkammern verharmlosen, die ABDA laviert, das Ministerium schweigt. Was bleibt, ist eine Branche, die nicht weiß, ob sie noch handeln darf – während andere längst liefern. Nordrhein wird zum ersten Experimentierraum. Die Direktverrechnung kommt – und damit digitale Schnittstellen, die mehr öffnen als nur den Zugang zur Krankenkasse. Wer glaubt, Versender warteten, täuscht sich: Sie sind längst da. Sie haben Kampagnen vorbereitet, Kanäle gelegt, Kundensätze strukturiert. Und sie wissen: Der Preis ist jetzt legitim.
Am Rand lauert die nächste Flanke. Tierarzneimittel. Kein Preisrecht. Kein Apothekengebot. Aber dieselben Plattformen, dieselben Algorithmen, dieselbe Infrastruktur. Der Markt kennt keine moralischen Zwischenräume. Er nutzt, was unbewacht ist. Und wo Regulierung fehlen darf, entsteht Wettbewerbsvorteil – nicht durch Innovation, sondern durch juristische Distanz.
Die Apotheke vor Ort bleibt unterdessen in der strukturellen Zange. Werben verboten. Bonifizieren verboten. Preiskampf verboten. Aber: Verlieren erlaubt. Der Anspruch auf Gleichbehandlung endet an der Grenze zur Plattform. Und das Bewusstsein dafür endet oft schon bei der Kammer. Das System verteidigt sich nicht. Es entschuldigt sich. Dafür, dass es noch existiert.
Doch Versorgung ist kein Auslaufmodell. Sie ist ein gesellschaftlicher Vertrag. Wenn Plattformen ihn einseitig umdeuten, braucht es keine Imagekampagnen – sondern Haltung. Die Apotheke muss nicht modernisiert werden. Sie muss verteidigt werden. Nicht mit Pathos. Mit Struktur. Mit rechtlicher Schärfe, politischem Willen und öffentlicher Sichtbarkeit. Wer glaubt, das sei Formalie, versteht nicht, was Markt heute bedeutet.
SG
Prokurist | Publizist | Verantwortungsträger im Versorgungsdiskurs
Kontakt: sg@aporisk.de
Wer das für Formalie hält, unterschätzt die Verantwortung, die Sprache heute tragen muss.
Ein Kommentar ist keine Meinung. Er ist Verpflichtung zur Deutung – dort, wo Systeme entgleiten und Strukturen entkoppeln.
Ich schreibe nicht, um zu erklären, was gesagt wurde. Ich schreibe, weil gesagt werden muss, was sonst nur wirkt, wenn es zu spät ist.
Denn wenn das Recht nur noch erlaubt, aber nicht mehr schützt, darf der Text nicht schweigen.