Preisbindung verliert ihre Schutzkraft, Recht verändert Märkte, Verantwortung wird zur Ressource

Source: Deutsche Nachrichten
Apotheken-News: Bericht von heute

Ein Urteil beendet einen Streit, aber manchmal eröffnet es auch ein neues Kapitel. Das BGH-Urteil zu DocMorris aus dem Juli 2025 mag sich vordergründig auf einen Werbefall aus dem Jahr 2012 beziehen – doch es wirkt in die Gegenwart hinein wie ein juristischer Stromstoß. Es bestätigt endgültig, dass die deutsche Preisbindung für rezeptpflichtige Arzneimittel im europäischen Versandhandel nicht durchsetzbar ist – eine Realität, die viele in der Apothekenwelt lange zu ignorieren versuchten. Mit der Entscheidung fällt nicht nur eine juristische Bastion, sondern auch ein politischer Mythos: dass Gleichpreisigkeit dauerhaft verteidigt werden könne, wenn nur der Wille stark genug sei. Die Entscheidung des BGH rückt die europäische Marktlogik ins Zentrum und entzieht allen Versuchen, durch nationale Gesetzgebung gegenzusteuern, ihre Legitimität. Damit stehen Apotheken, Standesvertretungen und die Politik vor einer grundsätzlichen Neujustierung: Wer sich nicht länger auf Preisbindung verlassen kann, muss Versorgungsqualität neu definieren – durch Struktur, Nähe, Vertrauen. Und wer diese Herausforderung annimmt, entdeckt hinter dem Verlust eines Schutzinstruments vielleicht die Chance auf eine neue unternehmerische Selbstdefinition.

Was wie ein Schlusspunkt unter einen längst vergessenen Altstreit erscheint, offenbart sich bei genauer Betrachtung als juristisch wie strategisch folgenreicher Einschnitt: Mit Urteil vom 17. Juli 2025 (Az. I ZR 74/24) hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass eine Werbeaktion von DocMorris aus den Jahren 2012/2013 – entgegen anderslautender Auffassungen der Vergangenheit – rechtlich nicht zu beanstanden sei. Das Urteil stützt sich auf das bereits 2016 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) gefällte Grundsatzurteil (Az. C-148/15), das die deutsche Preisbindung für rezeptpflichtige Arzneimittel in Bezug auf EU-ausländische Apotheken als nicht mit dem Unionsrecht vereinbar bewertete. Dass dieses Verfahren überhaupt noch anhängig war, ist in erster Linie juristischer Hartnäckigkeit geschuldet. Dass es nun so entschieden wurde, ist ein Fingerzeig auf eine strukturelle Neuvermessung des Versorgungsmarkts – nicht rückblickend, sondern vorausschauend.

Denn mit diesem Urteil endet nicht bloß ein jahrelanger juristischer Pfad. Es endet das letzte plausible politische Narrativ, das an die Möglichkeit einer Rückkehr zur nationalen Gleichpreisbindung glaubte. Wer bislang gehofft hatte, mit gesetzlichen Korrekturen ließe sich der Markt doch wieder in ein geschlossenes, preisreguliertes Gleichgewicht bringen, steht nun vor der ernüchternden Realität: Der europäische Binnenmarkt duldet keine isolierten Preisfestsetzungen, wenn sie grenzüberschreitenden Wettbewerb betreffen. Der BGH hat diese Sichtweise nun mit der Autorität der höchsten zivilrechtlichen Instanz im deutschen System bestätigt – präzise, eindeutig und folgenreich.

Für Apotheken bedeutet das eine bittere Erkenntnis, aber auch eine strategische Klärung. Die Epoche des Gleichpreisdenkens ist endgültig vorbei. Was sich bisher als politischer Dauerkompromiss zwischen Marktöffnung und heilberuflicher Verantwortung hielt, fällt auseinander – nicht weil es politisch gewollt wäre, sondern weil es rechtlich nicht mehr haltbar ist. Der Preis, einst ordnungspolitische Stellschraube, wird zur variablen Marktgröße. Und mit dieser neuen Realität müssen sich alle arrangieren: Politik, Standesvertretung, Versandhandel – und vor allem die Apotheken vor Ort.

Die Tragweite dieser Entwicklung liegt nicht nur in der unmittelbaren Wirkung auf vergangene oder künftige Werbeaktionen, sondern in der tieferliegenden Strukturverschiebung. Die deutsche Apothekenpolitik war in weiten Teilen auf dem Rückhalt der Gleichpreisbindung aufgebaut. Beratungsleistung, Standortbindung, Nacht- und Notdienstregelungen – all das basierte auf der Annahme, dass der Wettbewerb nicht über den Preis ausgetragen wird. Diese Grundlage ist nun juristisch entzogen. Was bleibt, ist ein Versorgungssektor, der sich nicht mehr gegen den Markt verteidigen kann, sondern sich in ihm bewähren muss.

Die politische Reaktion auf dieses Urteil wird entscheidend sein. Denn das Ende der Preisbindung eröffnet nicht automatisch einen fairen Wettbewerb. Vielmehr besteht die Gefahr einer Entkoppelung zwischen Marktmechanik und Versorgungsverantwortung. Versandapotheken können Rabatte gewähren, Boni ausschütten und zugleich Beratung auf ein algorithmisiertes Minimum reduzieren – während Vor-Ort-Apotheken mit immer komplexeren Aufgaben konfrontiert sind: Medikationsanalysen, pDL, Impfungen, Digitalisierung der BtM-Abgabe. Ohne ein regulatorisches Gegengewicht gerät das System aus dem Gleichgewicht.

Hier beginnt die eigentliche Verantwortung der Politik: Sie muss neue Ordnungskriterien schaffen, die nicht gegen, sondern mit dem europäischen Recht wirken. Das EuGH-Urteil selbst bietet dafür eine Vorlage – etwa über das Prinzip der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses. Die Sicherstellung flächendeckender Versorgung, die Wahrung heilberuflicher Standards, die Schutzpflicht gegenüber vulnerablen Gruppen – all das sind anerkannte Gründe, um Markteingriffe europarechtskonform zu begründen. Statt also die Preisbindung zu verklären, muss man neue Formen der Systemverantwortung entwickeln: etwa eine Gemeinwohlbindung für Versender, digitale Beratungspflichten, Zuschläge für Vor-Ort-Leistung oder Rückkopplungspflichten in regionale Versorgungssysteme.

Auch die ABDA steht nun unter Zugzwang. Ihre jahrelange Fixierung auf die Wiederherstellung der Gleichpreisbindung wird mit diesem Urteil zum strategischen Rohrkrepierer. Wer heute noch an einem politischen Narrativ festhält, das vom EuGH und nun auch vom BGH ausdrücklich zurückgewiesen wurde, verliert nicht nur Glaubwürdigkeit, sondern auch Gestaltungsspielraum. Es ist Zeit für eine ehrliche Kurskorrektur. Eine Verbandspolitik, die sich nicht an juristischen Realitäten orientiert, sondern an nostalgischen Leitbildern, verspielt ihre Relevanz.

Und dennoch liegt in dieser Situation eine Chance. Der Wegfall der Preisbindung kann, richtig genutzt, auch ein Befreiungsschlag sein. Apotheken könnten sich aus der engen Preisfixierung lösen und ihre Position als primäre Ansprechpartner:innen in der patientenzentrierten Versorgung schärfen. Wer nicht mehr über den Preis konkurriert, sondern über Struktur, Nähe, Qualität, kann ein neues Selbstbewusstsein entwickeln. In einem Markt, der zunehmend durch Plattformlogik und Fernbeziehung geprägt ist, kann die persönliche Beziehung zum Patienten – authentisch, kontinuierlich, ortsgebunden – zur stärksten Währung werden.

Gerade in einer Zeit, in der Gesundheit nicht nur medizinisch, sondern zunehmend sozial interpretiert wird, haben Apotheken einen entscheidenden Vorteil: Sie sind da. Physisch, kulturell, oft generationsübergreifend verankert. Dieses Kapital lässt sich nicht durch Boni ersetzen. Aber es muss sichtbar gemacht werden – durch Kommunikation, durch Kooperation, durch konsequente Weiterentwicklung. Beratung ist kein Anhang zur Abgabe, sondern ihr ethischer Kern. Wer diesen Anspruch nicht nur rhetorisch erhebt, sondern strukturell verankert, wird auch im liberalisierten Markt bestehen.

Der BGH hat also mehr getan, als einen Altfall zu bewerten. Er hat eine rechtliche Weggabelung markiert. Der Markt wird sich öffnen, ja – aber nicht chaotisch, sondern in jurisch begrenzten Bahnen. Wer sie zu lesen weiß, kann gewinnen. Wer sich ihnen verweigert, verliert. Für die Apotheken ist jetzt der Moment, das eigene Selbstbild nicht zu verteidigen, sondern zu erneuern. Die alten Schutzmauern sind gefallen. Aber das neue Gelände ist nicht leer. Es wartet auf kluge Wege. Wer sie als erster geht, wird führen.

Am Ende ist das Urteil nicht der Verlust einer Ordnung, sondern die Geburtsstunde einer neuen Verantwortung. Recht definiert keine Identität – aber es markiert ihre Spielräume. Und in diesen Spielräumen liegt alles, was eine freie Apothekerschaft ausmacht: Haltung, Unabhängigkeit, Vertrauen. Die Preisbindung ist Geschichte – aber die Geschichte der Apotheke ist noch nicht geschrieben. Jetzt ist ihre Stunde.

Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt, wenn das Verstehen längst vorbei ist. Was nicht gesagt wurde, wirkt trotzdem. Nicht für alle. Nur für jene, die hören, was zwischen den Sätzen spricht.

Was endet, ist ein juristischer Schutzwall. Was beginnt, ist die Verpflichtung zur Substanz. Wenn der Preis nicht mehr schützt, schützt nur noch das, was bleibt, wenn alles andere entfällt: die Qualität der Nähe, die Tiefe der Beratung, der Ernst der Verantwortung. Der BGH hat die Vergangenheit geschlossen – was nun offenliegt, ist der Raum für eine neue Apothekensprache. Sie wird nicht in Euro gemessen, sondern in Vertrauen. Und wer sie spricht, muss nicht lauter sein als andere – nur klarer.