Tollwut in der Großstadt, Wildtiere im Risiko, Prävention im Systemversagen

Source: Deutsche Nachrichten
Apotheken-News: Bericht von heute

In Berlin-Charlottenburg ist bei einer Zwergfledermaus das Tollwutvirus nachgewiesen worden – ein Fund, der nicht nur aus tiermedizinischer Sicht relevant ist, sondern strukturelle Fragen im Zusammenspiel von Zoonoseüberwachung, urbaner Prävention und öffentlichem Gesundheitsmanagement aufwirft. Die Diagnose erfolgte in einer Tierklinik, wohin das Tier durch privates Engagement gelangte. Diese Form des Zufallsfundes verweist auf ein grundsätzliches Problem: Frühwarnsysteme für zoonotische Erreger sind in vielen städtischen Strukturen kaum aktiv, personell unterbesetzt und oft nicht eng genug mit den öffentlichen Gesundheitsdiensten vernetzt. Der Fund zeigt exemplarisch, dass selbst bei meldepflichtigen Tierseuchen die Informationskette häufig vom Zufall abhängt. Besonders kritisch ist dabei, dass Zwergfledermäuse regelmäßig in der Nähe menschlicher Wohnbereiche auftreten. Wer als Dachdecker, Naturschützer oder Gebäudeverwalter mit diesen Tieren in Kontakt kommt, wird oft nicht einmal über präventive Impfempfehlungen informiert. Der Fall Berlin steht damit nicht isoliert, sondern beleuchtet die verbreitete Unterschätzung von Wildtieren als Teil städtischer Infektionsrisiken – und die Frage, ob wir auf das Unerwartete überhaupt vorbereitet sind.

Das Tier war von einer Privatperson aufgefunden und zur weiteren Untersuchung in eine Tierarztpraxis gebracht worden. Dort wurde ein Test auf das europäische Fledermaus-Tollwutvirus (EBLV-1) durchgeführt, der positiv ausfiel. Die Senatsverwaltung für Verbraucherschutz bestätigte den Fund öffentlich, betonte jedoch, dass keine akute Gefährdung der Bevölkerung bestehe.

Der Vorfall mag auf den ersten Blick wie ein isoliertes Ereignis wirken. Doch gerade diese Vereinzelung ist trügerisch. Denn was tatsächlich auffällt, ist nicht der Einzelfall – sondern die Abhängigkeit des Systems von Einzelpersonen. Wäre die Fledermaus nicht zufällig gefunden worden, wäre der Infektionsherd unentdeckt geblieben. Dies offenbart eine Schwäche im Frühwarnsystem für Zoonosen, das eigentlich Tierseuchen wie Tollwut frühzeitig erfassen soll. Dass eine infizierte Fledermaus in der Millionenstadt Berlin nur zufällig registriert wird, verweist auf Defizite in der systemischen Tierseuchenüberwachung.

Hinzu kommt: Zwergfledermäuse sind keine seltenen, scheuen Waldbewohner, sondern kommen regelmäßig in städtischen Räumen vor – etwa in Rollladenkästen, Dachböden oder Fassadenspalten. Die Nähe zum Menschen ist strukturell gegeben, nicht zufällig. Dennoch fehlt es an klarer Kommunikation zu den daraus resultierenden Gesundheitsrisiken. Die zuständigen Behörden empfehlen eine Impfung für Menschen mit regelmäßigem Wildtierkontakt, etwa im Naturschutz oder Handwerk. Doch der Bekanntheitsgrad dieser Empfehlung ist gering – ebenso wie die Durchimpfungsrate unter relevanten Berufsgruppen.

Gerade dieser Widerspruch zwischen Nähe und Nachlässigkeit macht den Fall so bedeutsam. Der Fund in Berlin steht exemplarisch für eine generelle Unterschätzung städtischer Wildtiere im Gesundheitskontext. Während sich die Aufmerksamkeit öffentlicher Prävention stark auf pandemische Risiken konzentriert hat, drohen andere Zoonosepfade aus dem Blick zu geraten. Die Tollwut gilt in Deutschland als weitgehend kontrolliert – doch kontrolliert ist nicht gleich irrelevant. Die Dunkelziffer nicht erkannter Fälle ist bei Fledermäusen hoch, die Meldewege sind oft unklar, und die Versorgung tierärztlicher Notaufnahmen vielfach überlastet.

Auch die Schnittstellen zwischen Veterinärverwaltung, Gesundheitsämtern und kommunalen Dienststellen sind oft nicht standardisiert. Der Fall Berlin zeigt nicht nur, dass Tierfunde von Privatpersonen ausgelöst werden müssen, sondern auch, dass es an strukturellen Eskalationsmechanismen fehlt. Was geschieht, wenn ein Tierarzt eine infizierte Fledermaus meldet? Wer wird informiert? Welche Kommunikationsketten greifen? Wie schnell erfolgt die Rückmeldung an gefährdete Berufsgruppen? Viele dieser Fragen bleiben unbeantwortet – oder werden improvisiert beantwortet, wenn es längst zu spät ist.

Dabei ist Prävention grundsätzlich möglich. Impfstoffe gegen Tollwut existieren, sind erprobt und verfügbar. Was fehlt, ist die systemische Sicht auf das Problem. Die Stadt als Ökosystem ist kein Ort mit klaren Trennlinien zwischen Mensch und Tier. Sobald Wildtiere dauerhaft im städtischen Raum leben, werden auch ihre Pathogene Teil der urbanen Infrastruktur. Wer Zoonoseprävention ernst nimmt, muss daher die Verantwortung für Frühwarnsysteme neu verankern – nicht auf Zufallsfunde warten, sondern gezielt beobachten, untersuchen, informieren und intervenieren.

Die Verantwortung liegt nicht bei der Bevölkerung, sondern beim System. Und ein System, das nur sichtbar wird, wenn es versagt, ist kein System. Sondern ein Reaktionsreflex.

Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt, wenn das Verstehen längst vorbei ist. Was nicht gesagt wurde, wirkt trotzdem. Nicht für alle. Nur für jene, die hören, was zwischen den Sätzen spricht.

Was uns als Randmeldung erscheint – ein toter Flatterer, ein positiver Test, eine Entwarnung der Verwaltung – ist in Wahrheit ein Prüfstein. Für unser Gesundheitsverständnis, für unsere Präventionskultur, für unseren Umgang mit dem Unberechenbaren. Die Fledermaus, die nicht hätte gefunden werden müssen, stellt eine Frage, die größer ist als sie selbst: Wenn wir auf das Geringe nicht achten – wie reagieren wir, wenn es groß wird? Die nächste Seuche wird sich nicht ankündigen. Aber vielleicht sitzt sie schon heute in einem Rollladenkasten – und niemand sieht hin.