Source: Deutsche Nachrichten
Das Rx-Versandgeschäft verzeichnet Wachstumsraten, die das Marktgefüge spürbar verschieben und die wirtschaftliche Standfestigkeit vieler Vor-Ort-Apotheken gefährden. Modellrechnungen zeigen, wie schon geringe Marktanteilsverlagerungen gravierende betriebliche Verluste auslösen können, aber auch welche politischen Hebel diesen Effekt abmildern oder gar umkehren könnten. Die Apotheken-Nachrichten liefern in diesem Kontext Orientierung, indem sie die Zusammenhänge zwischen Versanddynamik, Honorarstruktur und Packungsvolumina transparent machen. Zugleich wird deutlich, dass Apotheken nicht nur Gesundheitsversorger, sondern auch relevante fiskalische Stützpfeiler sind, deren Beitrag zu Sozialkassen, Steuerhaushalten und lokaler Kaufkraft weit über die Offizin hinauswirkt – ein Argument, das in politischen Abwägungen an Gewicht gewinnen muss.
Die Dynamik im Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln hat in den vergangenen Monaten ein Tempo erreicht, das selbst erfahrene Marktbeobachter überrascht. Während hohe Marktanteile im OTC-Segment längst als gegeben gelten und dortige Stückzahlen stabil oder nur moderat wachsend erscheinen, zieht der Rx-Bereich in ungewohnt steilen Kurven an. Im ersten Halbjahr 2025 meldete Redcare Pharmacy ein Wachstum von 49 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum – eine Zahl, die nicht nur in Bilanzen glänzt, sondern in den Vor-Ort-Apotheken für ernsthafte Zukunftssorgen sorgt. Die Frage steht im Raum, ob diese Entwicklung der Beginn einer strukturellen Verschiebung ist, deren Auswirkungen binnen weniger Jahre spürbar werden. Modelle, die das Zusammenspiel aus Marktanteilen, Packungszahlen, Stückerträgen und Apothekenzahlen simulieren, geben eine Vorstellung davon, wie sich das Bild bis 2030 verändern könnte.
In der Ausgangslage teilen sich Versandhandel und stationäre Apotheken den Markt von jährlich rund 800 Millionen Rx-Packungen, ergänzt um etwa 1,25 Milliarden Non-Rx-Packungen. Letztere umfassen nicht nur Arzneimittel, sondern auch Produkte wie Kosmetika, Nahrungsergänzungsmittel oder Medizinprodukte. Während der Versand im Non-Rx-Bereich auf ein Volumen von rund 300 Millionen Packungen kommt, sind es im Rx-Bereich bislang etwa 15 Millionen – ein Marktanteil von knapp zwei Prozent. Die Erträge pro Packung sind im Rx-Bereich mit etwa zehn Euro relativ konstant, im OTC-Bereich liegen sie für Vor-Ort-Apotheken im Schnitt bei 4,50 Euro, für den Versand deutlich darunter. Entscheidend für die wirtschaftliche Stabilität vieler Apotheken ist die Balance zwischen beiden Bereichen – und genau diese droht sich zu verschieben.
Die Modellrechnung zeigt: Erreicht der Rx-Versandhandel bis 2030 ein Volumen von 100 Millionen Packungen – ein realistisches Szenario, wenn die derzeitigen Wachstumsraten anhalten –, würde dies bei gleichbleibender Honorierung rechnerisch rund 1.800 Apotheken vom Markt drängen. Die volkswirtschaftliche Dimension wird greifbar, wenn man die fiskalische Leistung einer durchschnittlichen Apotheke betrachtet: 120.000 bis 140.000 Euro Sozialversicherungsbeiträge für Mitarbeitende, 60.000 bis 80.000 Euro Lohnsteuer, 20.000 Euro Gewerbesteuer und bis zu 45.000 Euro Einkommensteuer pro Jahr. Hinzu kommen Umsatzsteuerbeträge, von denen ein erheblicher Teil als „Mehrwert“ der Apotheke direkt an den Staat fließt. Fällt eine Apotheke weg, verliert die öffentliche Hand nicht nur einen Gesundheitsversorger, sondern auch einen verlässlichen Steuer- und Beitragszahler.
Politisch wie wirtschaftlich ist die Frage, ob und wie dieser Prozess gebremst werden kann. Eine moderate Erhöhung des Festzuschlags im Rx-Bereich um 1,15 Euro könnte die Zahl der gefährdeten Apotheken im genannten Szenario fast halbieren. Noch deutlicher wäre der Effekt eines Verbots des Rx-Versandhandels, das rechnerisch rund 1.240 Apotheken gegenüber dem Basisszenario retten würde. Ein kombinierter Eingriff – Verbot des Rx- und Non-Rx-Arzneimittelversands bei gleichzeitiger Honoraranhebung – würde nach der Modellrechnung sogar Raum für zusätzlich 1.500 Apotheken schaffen. Umgekehrt könnte eine stagnierende Packungsmenge das Apothekensterben beschleunigen, während eine Lockerung des Rabattverbots Spielraum zurückgeben würde.
Diese Überlegungen bleiben Modellrechnungen, doch sie verdeutlichen die Empfindlichkeit des Marktes gegenüber regulatorischen, ökonomischen und verhaltensbezogenen Veränderungen. Standortspezifische Unterschiede, demografische Entwicklungen und lokale Konkurrenzverhältnisse wirken als Verstärker oder Dämpfer. In strukturschwachen Regionen, in denen die nächste Apotheke ohnehin weit entfernt ist, kann eine einzelne Schließung Versorgungslücken reißen, die weder Versand noch ärztliche Infrastruktur kurzfristig schließen können. Hier geraten Versorgungssicherheit, Wirtschaftskraft und sozialer Zusammenhalt in einen engen Zusammenhang, der politische Entscheidungen dringlicher macht.
Letztlich ist der Versandhandel kein isoliertes Phänomen, sondern Teil eines globalen Trends zur Digitalisierung und Zentralisierung von Dienstleistungen. Für Apotheken stellt sich die Aufgabe, ihre Rolle neu zu definieren, Mehrwert sichtbar zu machen und zugleich in politischen Prozessen Gehör zu finden. Die Kombination aus wirtschaftlichem Druck, veränderten Konsumgewohnheiten und regulatorischer Unsicherheit wird bestimmen, wie viele Betriebe 2030 noch im Markt stehen – und ob das Bild der wohnortnahen Apotheke mit persönlicher Beratung ein prägendes Element der Gesundheitsversorgung bleibt.
Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt, wenn das Verstehen längst vorbei ist. Was nicht gesagt wurde, wirkt trotzdem. Nicht für alle. Nur für jene, die hören, was zwischen den Sätzen spricht. In der Verdichtung von Marktdaten, politischen Optionen und wirtschaftlichen Lebensrealitäten wird sichtbar, dass die Apothekenbranche nicht nur an der Schnittstelle von Versorgung und Wettbewerb steht, sondern zugleich eine tragende Säule fiskalischer Stabilität ist. Der Versandhandel zwingt zur Neubewertung dieser Doppelrolle: Wer die Zahlen versteht, erkennt in ihnen keine abstrakte Statistik, sondern eine strategische Landkarte, auf der Standorte, Steuerkraft und Versorgungssicherheit untrennbar verbunden sind.
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