Versandhandel wächst, Markt kippt, Apotheken-Nachrichten warnen

Source: Deutsche Nachrichten
 

Apotheken-News: Bericht von heute

Was lange als Randerscheinung galt, beginnt sich mit voller Wucht zu entfalten: Der Versandhandel, über Jahre vor allem im OTC-Segment erfolgreich, greift zunehmend nach dem verschreibungspflichtigen Kernmarkt. Hohe zweistellige Wachstumsraten lassen sich seit Monaten beobachten, und die vermeintliche Stabilität der bisherigen Marktaufteilung gerät ins Wanken. Für Apotheken stellt sich die Frage, ob sie in dieser Dynamik noch Spielräume behaupten können oder ob der Versandhandel zum unumkehrbaren Taktgeber wird. Politische Regulierung, Preisbindung, Kühlketten und Versorgungssicherheit stehen auf dem Prüfstand, während die digitale Bequemlichkeit der Patienten den Trend verstärkt. Schon jetzt wirken die Zahlen wie ein Schock in der Branche, denn sie berühren das Fundament der Vor-Ort-Apotheke. Zwischen wachsendem Druck, neuer Konkurrenz und ungelösten Fragen nach Vergütung und Struktur droht eine tektonische Verschiebung, die nicht nur ökonomische Folgen hat, sondern auch das Vertrauen in die Arzneimittelversorgung neu definiert.

Als der Versandhandel vor gut zwei Jahrzehnten legalisiert wurde, war der Reflex vieler Marktbeobachter zunächst Gelassenheit. Ein wenig OTC-Bestellung, ein paar Preisschlachten, aber der Kernbereich der verschreibungspflichtigen Arzneimittel schien durch Preisbindung, Beratungspflicht und logistische Hürden geschützt. Heute zeigt sich, dass diese Annahme brüchig ist. In jüngster Zeit melden große Versandplattformen nicht nur wachsende Umsätze, sondern vor allem zweistellige Zuwachsraten im Rx-Bereich. Diese Entwicklung ist nicht länger eine Randnotiz, sondern der Beginn einer tektonischen Verschiebung, die den Apothekenmarkt grundlegend verändern könnte.

Die Zahlen wirken wie ein Weckruf. Jahrzehntelang waren Rx-Bestellungen per Versand kaum relevant – zu kompliziert, zu unsicher, zu unattraktiv für Patienten. Doch die Digitalisierung, das E-Rezept und die Bereitschaft der Politik, neue Marktmechanismen zuzulassen, haben den Weg geebnet. Wo früher Papier und Botendienst dominierten, fließen heute elektronische Verordnungen direkt in die Server der Versender. Der Vorteil der Bequemlichkeit wiegt für viele Patientinnen und Patienten schwerer als die vertraute Beratung vor Ort. Wenn dazu noch Preisaktionen oder Bonusmodelle kommen, entsteht eine Dynamik, die sich mit dem Wort „Disruption“ treffend beschreiben lässt.

Die Vor-Ort-Apotheke, jahrzehntelang unangefochtenes Rückgrat der Versorgung, gerät ins Defensiv. Ihre Stärken – persönliche Beratung, schnelle Verfügbarkeit, Sicherheit im Notfall – sind im Alltag zwar unverzichtbar, verlieren aber an Gewicht, wenn Patienten Convenience und Kosten in den Vordergrund stellen. Es ist kein Zufall, dass sich die Versandhändler gerade jetzt strategisch positionieren. Sie profitieren von Investoren, von Skaleneffekten und von einer Öffentlichkeit, die digitale Lösungen zunehmend als Standard begreift. Für viele Apothekerinnen und Apotheker ist das eine doppelte Bedrohung: ökonomisch durch den Abfluss von Rezepten und politisch durch die Gefahr, dass ihre Leistungen als „veraltet“ deklassiert werden.

Hinzu kommt die rechtliche Dimension. Noch immer gilt die Preisbindung für Rx-Arzneimittel, doch das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass Spielräume bestehen. Versandhändler aus dem EU-Ausland dürfen Boni gewähren, die inländischen Apotheken verboten sind. Dieses Ungleichgewicht hat schon früher Frustration ausgelöst, aber nun, da die Volumina massiv steigen, wird es zur Existenzfrage. Es ist absehbar, dass sich diese Schieflage auch in politischen Debatten niederschlagen wird. Schon jetzt fordern Stimmen aus dem Gesundheitswesen eine klare Entscheidung: Entweder konsequente Gleichbehandlung oder eine Korrektur zugunsten der Vor-Ort-Strukturen.

Ökonomisch zeigt sich das Risiko am deutlichsten. Jede verschobene Verordnung bedeutet für die Apotheke vor Ort nicht nur verlorenen Umsatz, sondern auch eine Schwächung der Gesamtkalkulation. Apotheken finanzieren Beratung, Notdienst und Infrastruktur quer – über Margen, die sie mit dem Rx-Bereich erzielen. Wenn diese Basis wegbricht, reichen OTC-Verkäufe oder kosmetische Zusatzgeschäfte nicht aus, um die Lücke zu schließen. Schon heute stehen viele Betriebe unter Druck, weil Fixkosten steigen und die Honorierung stagniert. Der Versandhandel verschärft diese Schere, indem er gerade das herausnimmt, was den Apotheken bislang Stabilität sicherte.

Besonders kritisch ist, dass dieser Trend in einer Phase einsetzt, in der die Versorgung ohnehin unter Spannung steht. Die Zahl der Apotheken sinkt seit Jahren, ländliche Räume kämpfen um die Sicherung der Basisversorgung, junge Pharmazeuten scheuen die Niederlassung. Wenn nun auch noch die ökonomische Tragfähigkeit angegriffen wird, droht eine Abwärtsspirale: weniger Apotheken, weniger Versorgungssicherheit, mehr Begründung für digitale Alternativen – ein selbstverstärkender Kreislauf. Hier zeigt sich, dass die Marktlogik nicht nur ökonomische, sondern auch gesellschaftliche Folgen hat.

Die Politik versucht bislang, gegenzusteuern – aber meist halbherzig. Boni-Verbote, Förderprogramme für Notdienste, Diskussionen über neue pharmazeutische Dienstleistungen: all das sind Schritte, die den Apotheken Rückenwind geben sollen. Doch solange der Versandhandel seine Skalenvorteile ausspielt und regulatorisch kaum eingegrenzt wird, bleiben diese Maßnahmen Pflaster auf einer klaffenden Wunde. Die jüngsten Ankündigungen, das E-Rezept auch für ausländische Anbieter zu öffnen, wirken wie Brandbeschleuniger. Man kann darüber diskutieren, ob dies Innovation oder Fahrlässigkeit ist, doch klar ist: Die Spielräume der Vor-Ort-Apotheken werden dadurch nicht größer.

In der öffentlichen Wahrnehmung liegt ein weiterer Stolperstein. Während Apotheken oft als teurer, aber notwendiger Teil des Systems gelten, inszenieren sich Versandhändler als moderne, kundenfreundliche Dienstleister. Ihre Werbebotschaften setzen auf Preis, Einfachheit und Lifestyle, nicht auf Sicherheit, Notfallbereitschaft oder komplexe Arzneimittelberatung. Diese subtile Umdeutung verändert die Erwartungen der Patienten. Wer einmal gelernt hat, dass das Rezept per Klick eingelöst werden kann, sieht die persönliche Abholung in der Apotheke schnell als Umweg. Dass im Ernstfall, bei Wechselwirkungen oder bei akuten Risiken, genau diese Apotheke Leben retten kann, tritt in den Hintergrund.

Für die Apotheken bleibt die Frage: Was tun? Resignation ist keine Option, aber auch der blinde Ruf nach Verboten hilft nicht. Die Chance liegt in der Differenzierung. Beratung, Prävention, pharmazeutische Dienstleistungen, Impfungen, Medikationsanalysen – all dies sind Bereiche, in denen Versandhändler kaum mithalten können. Entscheidend ist, dass diese Leistungen sichtbar, honoriert und systematisch verankert werden. Dazu braucht es eine Politik, die Versorgung nicht allein als Kostenfaktor sieht, sondern als Infrastruktur, die wie Feuerwehr oder Polizei verlässlich vor Ort verfügbar sein muss.

Es wäre fatal, den Versandhandel nur als Feindbild zu betrachten. Er ist Realität und er wird bleiben. Die Frage ist nicht, ob er wächst, sondern wie das System darauf reagiert. Eine kluge Strategie könnte darin bestehen, die Vorteile der digitalen Plattformen mit der Stärke der persönlichen Versorgung zu verbinden. Apotheken, die Telepharmazie, digitale Bestellwege und flexible Öffnungszeiten integrieren, können den Wettbewerb nicht nur überleben, sondern auch gestalten. Voraussetzung ist, dass sie nicht von regulatorischen Ungleichheiten erdrückt werden, sondern faire Rahmenbedingungen erhalten.

Die Verantwortung dafür liegt nicht allein bei der Branche, sondern auch bei der Politik und letztlich bei der Gesellschaft. Wer Versorgung als Gemeinwohl versteht, muss bereit sein, sie auch zu finanzieren und zu schützen. Wer sie dem Markt überlässt, darf sich nicht wundern, wenn am Ende nur noch dort Apotheken existieren, wo sie sich lohnen. Der Versandhandel mag kurzfristig billiger wirken, langfristig aber kostet er Versorgungssicherheit – und die ist unbezahlbar.

Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt. Denn wenn Marktanteile im Versandhandel explodieren, Apotheken sich im Gegenwind behaupten müssen und Politik weiter zaudert, dann entscheidet sich die Zukunft nicht im Heute, sondern in der Erinnerung an das, was man hätte sichern können.