Apotheken-News: Kontrolle scheitert, Technik versagt, Versicherung schützt

Source: Deutsche Nachrichten
Wenn Kontrollsysteme zur operativen Belastung werden, digitale Prozesse neue Fehlerquellen öffnen und Versicherungsschutz zum letzten Halt in der Versorgung wird, zeigt sich die strukturelle Überforderung eines Systems, das Verantwortung auslagert, statt sie zu regeln. In Apotheken, die unter Retaxationsdruck, technischer Störanfälligkeit und bürokratischer Kleinteiligkeit leiden, droht der Versorgungsauftrag zur wirtschaftlichen Hypothek zu werden. E-Rezepte, einst als Befreiung propagiert, erzeugen neue Risiken. Pflegehilfsmittelverträge verunsichern statt zu entlasten. Und die Angst vor der nächsten Regressforderung ersetzt längst die Souveränität betrieblicher Entscheidungen. Parallel warnt das Robert Koch-Institut vor einem flächendeckenden Präventionsversagen: Millionen Menschen tragen ein hohes Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall – ohne es zu wissen, ohne angesprochen zu werden, ohne vorgesorgt zu haben. Die Verbindung dieser Phänomene ist keine zufällige Gleichzeitigkeit, sondern Ausdruck eines Systems, das operative Verantwortung durch Sanktionen ersetzt, technische Machbarkeit mit Sicherheit verwechselt und Prävention nur als Schlagwort kennt. In dieser Gemengelage wird aus Apothekenführung Risikomanagement – und aus Systemunterstützung Versicherungsschutz. Wer jetzt nicht strukturell handelt, riskiert eine Versorgung, die in der Fläche zusammenbricht, bevor sie digitalisiert wurde.

Wenn Apotheken bei korrekt abgegebenen Hochpreisarzneien um fünfstellige Beträge retaxiert werden, elektronische Rezepte neue Fehlerquellen erzeugen und die Absicherung durch Spezialversicherungen zur Überlebensstrategie avanciert, hat das Gesundheitswesen eine Grenze erreicht, die nicht nur technisch, sondern strukturell relevant ist. Die Praxis zeigt: Fehler in der Chargendokumentation, ein falsches Häkchen im E-Rezept oder eine formal nicht genehmigte Pflegehilfsmittellieferung können existenzbedrohend sein – insbesondere in Zeiten, in denen Betriebe unter Inflation, Personalmangel und politischer Unsicherheit stehen.

Retaxationen sind längst kein Randphänomen mehr. Sie bilden eine systemimmanente Rückdelegation von Verantwortung an die Leistungserbringer. Was auf den ersten Blick wie ein Kontrollinstrument wirkt, entpuppt sich im Alltag als Sanktionsregime, das nicht zwischen vorsätzlichem Betrug und marginaler Formabweichung unterscheidet. Es sind nicht kriminelle Absichten, die Apotheken zu schaffen machen – sondern die Unmöglichkeit, jeden regulatorischen Schritt fehlerfrei zu vollziehen, während gleichzeitig Patienten versorgt, Lieferungen organisiert und Notdienste abgedeckt werden müssen. Das Versprechen, Fehlerquote und Retaxrisiko mit dem E-Rezept zu minimieren, hat sich in vielen Fällen ins Gegenteil verkehrt: Neue technische Schnittstellen öffnen neue Angriffspunkte – von fehlerhaften Übertragungen über Softwareinkompatibilitäten bis hin zu Friktionen mit Krankenkassensystemen.

Die Politik schweigt dazu auffällig. Selbst gravierende Fälle wie die aktuelle Häufung von Rezeptfälschungen beim Krebsmittel Lonsurf oder der organisatorische Stillstand bei der Einführung des E-T- und E-BtM-Rezepts finden kaum öffentliches Echo. Auch der neue Pflegehilfsmittelvertrag ab 1. Juni bringt statt Erleichterung vor allem Unklarheit: In vielen Apotheken herrscht Unsicherheit darüber, welche Genehmigungsformate und Abrechnungsmodi künftig zu beachten sind – ein Risiko, das in Form von Retaxationen oder Regressen nicht selten in voller Härte zurückschlägt.

In dieser Gemengelage wird der Abschluss einer Retax-Versicherung zur Überlebensfrage. Anbieter berichten von stark wachsender Nachfrage und einer Zunahme an Schadenfällen, die nicht auf grobe Fahrlässigkeit zurückgehen, sondern auf die Überforderung durch kleinteilige Vorgaben und instabile digitale Infrastrukturen. Wo früher Kulanz möglich war, wird heute mit Rückforderung und Regress geantwortet. Versicherer, die branchenspezifisch arbeiten, müssen zunehmend auch psychologische Entlastung leisten: Denn die Angst vor dem nächsten Fehler, dem nächsten Anruf der Kasse, der nächsten Fristversäumnis erzeugt einen mentalen Druck, der ganze Teams destabilisieren kann.

Gleichzeitig mehren sich die Anzeichen, dass sich Apotheken vermehrt aus besonders risikobehafteten Versorgungsfeldern zurückziehen – etwa bei der Belieferung hochpreisiger Spezialarzneimittel oder der Betreuung schwer chronisch Kranker. Nicht aus Desinteresse, sondern aus betrieblichem Selbstschutz. Eine Entwicklung, die besonders strukturschwache Regionen trifft, wo alternative Versorgungsmodelle oft fehlen. Die daraus resultierenden Versorgungslücken zeigen exemplarisch, wie eng wirtschaftliche Stabilität und medizinische Erreichbarkeit inzwischen miteinander verknüpft sind. Wenn Apotheken verschwinden, verschwindet nicht nur ein Ort der Arzneimittelabgabe – sondern ein zentrales Sicherheitsnetz im öffentlichen Gesundheitswesen.

Parallel rückt ein weiteres Thema in den Fokus: die epidemiologische Realität von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Nach aktuellen RKI-Daten lebt fast jeder fünfte Erwachsene in Deutschland mit einem massiv erhöhten Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall – ohne es zu wissen. Die neue Erhebung zeigt nicht nur eine besorgniserregende Lücke in der Eigenwahrnehmung, sondern auch eine eklatante Schwäche in der Präventionslogik. Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen oder Diabetes werden zu selten frühzeitig adressiert. Das Problem liegt nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch in einem Versorgungssystem, das zu reaktiv, zu fragmentiert und zu unübersichtlich arbeitet. Prävention wird propagiert, aber nicht operationalisiert – weil staatliche Steuerung fehlt, finanzielle Anreize fehlen und sektorübergreifende Versorgung nicht systematisch gefördert wird. Das Ergebnis: vermeidbare Ereignisse wie kardiovaskuläre Notfälle treten als systemischer Dauerfall auf.

Wenn Kontrolle zur Belastung wird, Technik nicht entlastet, Versicherungen nicht ergänzen, sondern retten müssen, und wirtschaftlicher Rückzug zur Standardantwort wird, ist das kein Betriebsproblem mehr, sondern ein Ausdruck einer dysfunktionalen Struktur. Apotheken, die täglich versuchen, diesem Zustand standzuhalten, agieren nicht defizitär, sondern systemrelevant. Wer ihnen hilft, schützt nicht nur Betriebe, sondern Stabilität. Und wer sie alleinlässt, riskiert nicht nur Retaxationen, sondern Versorgungslücken, die sich nicht mehr schließen lassen.

Von Engin Günder, Fachjournalist