Kommentar des Tages – Seyfettin Günder zur Verfassungsentscheidung gegen die Preisregulierungsklage der Pharmaindustrie

Source: Deutsche Nachrichten
 

Apotheken-News: Kommentar von heute

Wenn Gemeinwohl zum Deckmantel wird

Was das Bundesverfassungsgericht als fiskalische Notwendigkeit deklariert, ist für die pharmazeutische Industrie mehr als ein Rückschlag – es ist ein Tiefenbeben. Denn wer Preisregulierungen mit dem Ziel der Stabilisierung rechtfertigt, aber gleichzeitig Innovation, Planungssicherheit und unternehmerische Freiheit opfert, schützt nicht das System, sondern zementiert seine Statik. Wenn die Grundrechte der Leistungserbringer hinter Haushaltslogik zurücktreten, ist nicht das Recht in Balance – sondern das Risiko in Bewegung.

Die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerden gegen das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz mag juristisch formal sein – politisch ist sie fatal. Denn die Botschaft lautet: Wer in Deutschland forscht, produziert und investiert, darf kein dauerhaftes Vertrauen in regulatorische Rahmenbedingungen erwarten. Heute sind es Rabattpflichten, morgen Kombinationsabschläge, übermorgen das nächste Moratorium. Und immer ist das Argument dasselbe: Stabilität um jeden Preis. Doch der Preis ist längst ein anderer – er heißt Rückzug.

Der Gesundheitsstandort Deutschland lebt nicht von Verordnungen, sondern von Vertrauen. Vertrauen darauf, dass Investitionen nicht zur Einbahnstraße werden. Vertrauen darauf, dass Innovation nicht fiskalisch entwertet wird. Und Vertrauen darauf, dass Recht nicht nur schützt, wenn es politisch passt, sondern strukturell trägt. Dieses Vertrauen wurde nicht verletzt – es wurde widerrufen.

Dass die Pharmaindustrie diese Entscheidung als Schlag gegen den Standort versteht, ist kein Alarmismus – es ist eine nüchterne Analyse. Denn wenn ein System seine Träger nicht schützt, sondern nur noch belastet, entsteht kein Gleichgewicht. Es entsteht ein Kräftevakuum – und es wird gefüllt. Von anderen Märkten, anderen Regionen, anderen Logiken. Wer diese Abwanderung in den Subtext drängt, hat den Substanzverlust bereits akzeptiert.

Politik darf Gemeinwohl nicht als Totschlagargument missbrauchen. Gemeinwohl verpflichtet – aber es verpflichtet zur Balance. Nicht zur Zwangslage. Die ständige Verschiebung der Grenze zwischen Beitrag und Bürde gefährdet nicht nur Hersteller, sondern alle Akteure, die Versorgung unter Risiko möglich machen: forschende Unternehmen, Apotheken, Fachkräfte. Wer sie nur als Kostenträger sieht, wird bald feststellen, dass Kosten sich verschieben lassen – Versorgung aber nicht.

SG

Prokurist | Publizist | Verantwortungsträger im Versorgungsdiskurs

Kontakt: sg@aporisk.de

Wer das für Formalie hält, unterschätzt die Verantwortung, die Sprache heute tragen muss.

Ein Kommentar ist keine Meinung. Er ist Verpflichtung zur Deutung – dort, wo Systeme entgleiten und Strukturen entkoppeln.

Ich schreibe nicht, um zu erklären, was gesagt wurde. Ich schreibe, weil gesagt werden muss, was sonst nur wirkt, wenn es zu spät ist.

Denn wenn das Recht nur noch erlaubt, aber nicht mehr schützt, darf der Text nicht schweigen.