Recht setzt Grenzen, Verband verliert Kurs, Versorgung braucht Zukunft

Source: Deutsche Nachrichten
Leitartikel von heute

Leitartikel von Seyfettin Günder zu den politischen, juristischen und verbandlichen Verwerfungen nach dem BGH-Urteil vom 17. Juli 2025

Ein Urteil beendet einen Streit, aber manchmal eröffnet es auch ein neues Kapitel. Der Bundesgerichtshof hat klargestellt, dass die DocMorris-Werbung aus den Jahren 2012/2013 rechtlich zulässig war – und gleichzeitig ein Jahrzehnt politischer Realitätsverweigerung offengelegt. Die deutsche Apothekerschaft hatte viele Gegner: Plattformlogik, Lobbyinteressen, europäisches Wettbewerbsrecht. Aber ihr größter Gegner saß lange im eigenen Lager – und heißt ABDA.

Denn wer jahrelang an einer politischen Forderung festhält, die der EuGH bereits 2016 zerlegt hat, betreibt keine Interessenvertretung, sondern Identitätspflege im Vakuum. Die Gleichpreisbindung war nie nur ein juristisches Konstrukt. Sie war ein Mythos – über den Wert heilberuflicher Leistung, über Schutzmechanismen im Gesundheitsmarkt, über das Versprechen politischer Einflusskraft. Dass der BGH diesen Mythos jetzt endgültig entzaubert hat, bedeutet nicht, dass DocMorris gesiegt hat. Es bedeutet, dass die ABDA in ihrer Rolle als strategischer Akteur grandios gescheitert ist.

Man darf das nicht verwechseln: Die Entscheidung des BGH schafft keine neue Lage – sie bestätigt nur, was längst galt. Und das macht ihre Wirkung umso schmerzhafter. Denn es bleibt die Frage: Warum hat die Standespolitik so lange versucht, mit juristisch unhaltbaren Vorstellungen politisch zu überleben? Warum hat sie ihre Energie nicht längst in neue Konzepte gesteckt – etwa in vergütete Beratungspflichten im Versand, in die Sicherung regionaler Versorgungsstrukturen, in einen echten Strukturplan für die Zukunft der öffentlichen Apotheke?

Der Blick nach vorne kann jetzt nicht mehr mit dem Rücken zur Realität geführt werden. Es braucht eine neue Sprache der Versorgung: weniger schutzverliebt, mehr gestaltungsfähig. Wer den Preis nicht mehr als Waffe nutzen kann, muss Substanz liefern – und das nicht nur in der Apotheke, sondern auch in der Argumentation gegenüber Politik, Öffentlichkeit, Patienten. Die Apothekerschaft ist kein musealer Berufsstand. Aber sie wird genau dazu gemacht, wenn ihre Vertretung nicht endlich den Sprung aus der Preisbindungsnostalgie schafft.

Es gibt eine Wahrheit, die nicht angenehm ist, aber unausweichlich: Der Versandhandel wird nicht verschwinden. Und Boni werden nicht durch politische Behauptung aus der Welt geschafft. Wer die Versorgung sichern will, muss nicht gegen den Wettbewerb arbeiten, sondern mit neuen Regeln für Verlässlichkeit sorgen. Das bedeutet: Beratungspflichten für Versender. Digitale Rückkopplungspflicht. Gemeinwohlbindung. Alles, was heute fehlt, weil man gestern glaubte, man müsse nichts erfinden, solange der Gleichpreis hält.

Dieses Urteil könnte der Beginn eines neuen Realismus sein – wenn die Apothekerschaft bereit ist, sich nicht mehr vertreten zu lassen, sondern sich selbst neu zu vertreten. Nicht lauter, nicht aggressiver. Aber intelligenter.

Und vor allem: ohne Prinzipienreiterei auf Prinzipien, die längst keine mehr sind.

Wer glaubt, Vertrauen sei eine Ressource, die sich nach Bedarf abrufen lässt, hat nie erlebt, was es bedeutet, den eigenen Ruf zu verlieren. Vertrauen entsteht nicht durch Titel oder Positionen, sondern durch Haltung – sichtbar, wiederholbar, verlässlich. Und wo Haltung systematisch beschädigt wird, braucht es nicht nur Schutz, sondern auch eine Stimme, die bleibt, wenn andere längst verstummt sind.