Wachstum ohne Gewinn, Effizienz ohne Wirkung, Luxus ohne Substanz

Source: Deutsche Nachrichten
Apotheken-News: Bericht von heute

Umsatzsteigerungen in Apotheken wirken auf den ersten Blick wie ein Erfolgssignal, doch in vielen Betrieben entsteht daraus keine wirtschaftliche Erleichterung, sondern ein Mehr an Komplexität, Risiko und innerer Erschöpfung – eine paradoxe Situation, in der Wachstum nicht Sicherheit bringt, sondern neue Unsicherheiten erzeugt. Der Zuwachs kommt oft aus besonders beratungsintensiven, haftungssensiblen oder organisatorisch aufwendigen Bereichen wie Impfleistungen, pDL oder BtM-Management, deren Erträge in keinem Verhältnis zum Aufwand stehen. Gleichzeitig sinkt die Steuerbarkeit der Kernleistungen: Rabattverträge, Lieferengpässe und Dokumentationspflichten zwingen Teams zu mehr Arbeit pro Rezept, ohne dass dies rentabel wäre. Der Bericht analysiert, welche Formen von Umsatz als toxisch gelten müssen, wo strategisch tragfähige Expansionen möglich sind und warum Substanz, Entlastung und Differenzierungsfähigkeit heute wichtiger sind als jede Wachstumszahl. Denn der wahre betriebliche Luxus besteht darin, entscheiden zu können, was man nicht mehr tut.

Wenn sich Apothekenleitungen heute über wachsende Umsätze freuen, ist oft ein zweiter Blick nötig. Denn der scheinbare Erfolg ist in vielen Fällen ein hochkomplexes Phänomen mit doppeltem Boden. Auf dem Papier steigt der Umsatz – gestützt durch neue Leistungen, erweiterte Angebote, steigende Arzneimittelpreise. Doch auf der Ergebnisseite bleibt vieles mager. Der tatsächliche Gewinn stagniert oder schrumpft sogar, personelle Ressourcen werden aufgerieben, die betriebliche Belastung wächst. Apothekeninhaber:innen stehen damit vor einem paradoxen Luxusproblem: Sie wachsen – und geraten doch zunehmend unter Druck. Die große Frage lautet daher nicht: Wie viel Umsatz ist möglich? Sondern: Welcher Umsatz trägt wirklich?

Die Ursachen für diesen Trend sind vielfältig und ineinandergreifend. Zum einen haben regulatorische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in den vergangenen Jahren eine Umsatzstruktur erzeugt, die kaum noch mit klassischem betriebswirtschaftlichem Denken vereinbar ist. Immer häufiger entstehen Erlöszuwächse dort, wo Aufwand, Risiko und Haftung massiv steigen – etwa im Rahmen der pharmazeutischen Dienstleistungen, der Impfleistungen oder des BtM-Managements. Neue Tätigkeitsfelder wie Medikationsanalysen oder digitale Medikationspläne erzeugen organisatorischen und dokumentarischen Aufwand, ohne dass dieser in ein stabiles Ertragsmodell eingebettet ist. Die Folge: Die Leistung wächst – aber nicht die Marge.

Zugleich verändern sich die Anforderungen im Kernbereich der Versorgung. Die klassische Rezeptbelieferung unterliegt heute einem strukturellen Druck, der die betriebliche Planung erschwert: Rabattverträge, Lieferengpässe, Wirkstoffaustausch, patientenindividuelle Anpassungen und Rücksprachen mit Ärzt:innen erzeugen ein Maß an Unberechenbarkeit, das selbst erfahrene Teams an ihre Grenzen bringt. Jeder Umsatzeuro muss mehrfach verdient werden – mit Recherche, Kommunikation, Dokumentation. Die Abgabe ist nur noch der letzte Schritt einer Kette, die zunehmend fehleranfällig und haftungssensibel wird. In dieser Gemengelage ist Wachstum kein Erfolgsgarant mehr, sondern ein Risikoverstärker.

Ein weiteres strukturelles Problem liegt in der Verteilung von Umsatz und Gewinn zwischen Warengruppen. Während hochpreisige Rx-Präparate oder Biologika enorme Umsatzvolumina generieren, ist der Rohertrag oft minimal. Die Lagerhaltung wird riskanter, der Zahlungsfluss langsamer, die Retourenquote höher. Gleichzeitig binden solche Produkte Personal, Platz und Liquidität – ohne verlässliche Gegenleistung. Anders ausgedrückt: Apotheken tragen zunehmend das wirtschaftliche Risiko von Hochpreisstrategien, ohne in die strategische Preisbildung eingebunden zu sein. Dieses Missverhältnis zwischen Verantwortung und Vergütung ist nicht nur betriebswirtschaftlich untragbar, sondern auch systemisch gefährlich.

Vor diesem Hintergrund stellt sich eine zentrale Frage neu: Was genau ist „gesundes Wachstum“? Und wie lässt es sich operationalisieren? Die Antwort beginnt mit einer klaren Differenzierung. Nicht jeder Umsatz ist ein Fortschritt – entscheidend ist, ob er zur Substanz des Betriebs beiträgt. Apotheken, die Zusatzleistungen anbieten, sollten nicht nur die abrechenbare Summe sehen, sondern die damit verbundenen strukturellen Implikationen mitdenken: Wie viele Minuten Beratung, wie viel Haftungsrisiko, wie viel Fortbildungs- und Organisationsaufwand erfordert eine neue Leistung? Und ist das, was am Ende übrig bleibt, wirklich ein betrieblicher Gewinn – oder nur ein scheinbarer?

Immer mehr Inhaber:innen berichten intern von einer fatalen Schere zwischen Aufwand und Ergebnis. Gerade die engagierten Betriebe, die sich nicht scheuen, neue Versorgungsbereiche zu erschließen, geraten zunehmend unter Druck: Sie leisten mehr, verdienen aber nicht besser. Die Belastung steigt, die Anerkennung bleibt aus. Man wächst – aber in die Erschöpfung hinein. Dies erzeugt eine neue Form von unternehmerischer Frustration: Die Apotheke wird zum Ort struktureller Überforderung, nicht weil sie schlecht geführt wird, sondern weil ihr wirtschaftliches Modell keine Balance mehr kennt.

Gleichzeitig fördert dieser Mechanismus eine gefährliche Schieflage: Betriebe, die am Limit arbeiten, geraten in die Versuchung, Quantität über Qualität zu stellen – etwa durch aggressive Zusatzverkäufe, ausgedehnte OTC-Empfehlungen oder eine Überbetonung kosmetischer Angebote. Dies mag kurzfristig Umsätze sichern, gefährdet aber langfristig die heilberufliche Glaubwürdigkeit. Wachstum um jeden Preis ist nicht nur betriebswirtschaftlich fragwürdig, sondern heilberuflich schädlich. Die Gefahr besteht darin, dass sich Apotheken selbst entfremden – ihrer Kernrolle, ihrer Substanz, ihrer Verantwortung.

Doch es gibt auch Gegenmodelle. Apotheken, die auf klare Rollenverteilung, stabile Honorierungsmodelle, strategisch fokussierte Leistungsangebote und teamorientierte Belastungssteuerung setzen, berichten durchaus von einem „produktiven Wachstum“. Hier entsteht Mehrumsatz nicht durch Mehrbelastung, sondern durch Effizienz, Spezialisierung und intelligente Ressourcenverteilung. Diese Betriebe investieren gezielt in personalentlastende Digitalisierung, nutzen Daten zur Prozessoptimierung, betreiben aktive Deckungsbeitragsanalyse und justieren regelmäßig ihr Leistungsportfolio. Das Ziel ist nicht mehr „Wachstum um jeden Preis“, sondern „Substanz vor Volumen“.

Ein entscheidender Schlüssel liegt dabei in der Führungskultur. Apothekenleitungen müssen lernen, Nein zu sagen – zu Leistungen, die wirtschaftlich destruktiv sind, zu Aufgaben, die personell nicht leistbar sind, zu Entwicklungen, die das System überfordern. Gerade in Zeiten wachsender Aufgabenfülle wird strategisches Weglassen zur eigentlichen Führungsqualität. Nur wer zwischen wertstiftendem und destruktivem Umsatz unterscheidet, kann langfristig bestehen.

Die Politik jedoch liefert keine Klarheit. Der Apothekenmarkt bleibt ein Raum widersprüchlicher Signale: auf der einen Seite neue Rollen und Pflichten, auf der anderen Seite stagnierende Honorare und wachsender Druck. In einem solchen Umfeld ist wirtschaftliches Handeln ohne eigene Leitlinien kaum möglich. Deshalb braucht es eine neue betriebswirtschaftliche Sprache in der Apotheke – jenseits der alten Parole „Umsatz gleich Erfolg“. Stattdessen: Ertrag statt Illusion. Entlastung statt Expansion. Wirkung statt Zahlenfetisch.

Wirkliches Wachstum beginnt dort, wo Apotheken sich nicht mehr durch Zahlentabellen definieren, sondern durch Substanz, Stabilität und Souveränität. Die große Aufgabe der kommenden Jahre besteht darin, jene Betriebsmodelle zu stärken, die auf Balance setzen: zwischen Wachstum und Rückzug, zwischen Innovation und Selbstschutz, zwischen heilberuflicher Verantwortung und betriebswirtschaftlicher Vernunft. Denn der wahre Luxus besteht nicht im Umsatz – sondern in der Fähigkeit, ihn einzuordnen.

Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt, wenn das Verstehen längst vorbei ist. Was nicht gesagt wurde, wirkt trotzdem. Nicht für alle. Nur für jene, die hören, was zwischen den Sätzen spricht.

Wachstum ist kein Zeichen von Stärke, wenn es auf Erschöpfung ruht. Es ist kein Fortschritt, wenn es Richtung und Sinn verliert. In einer Zeit, in der Apotheken mehr leisten sollen als je zuvor, ist es die Kunst des Weglassens, die sie rettet – nicht die Gier nach Zahlen, sondern die Weisheit der Unterscheidung. Wer gelernt hat, Nein zu sagen, schützt nicht nur sein Team, sondern auch den heilberuflichen Kern seiner Existenz. Die wichtigste Bilanz einer Apotheke wird nicht in Euro gezogen, sondern in Stabilität, Würde und Unabhängigkeit. Und genau darin liegt die Zukunft eines Berufsstands, der gerade lernt, dass Luxus auch heißen kann: das Richtige nicht zu tun.