Leistung wird nicht genutzt, Zugang bleibt verbaut, Gesundheit scheitert am Verhalten

Source: Deutsche Nachrichten
 

Apotheken-News: Bericht von heute

Während Milliarden für pDL-Maßnahmen bereitstehen, verpufft ihr Effekt im Apothekenalltag, weil weder Zeit noch strukturelle Bedingungen eine nachhaltige Umsetzung erlauben, während gleichzeitig die Digitalisierung im Gesundheitswesen an der Realität der Patient:innen scheitert – etwa dann, wenn die elektronische Patientenakte (ePA) nur per Video-Ident aktivierbar ist, aber genau jene Zielgruppe ausschließt, die sie besonders bräuchte: ältere, digital unsichere Menschen mit komplexem Versorgungsbedarf. Zugleich zeigen neue Studien zu Taurin, körperlicher Aktivität und Ernährung, dass die medizinische Erkenntnis über Prävention längst deutlich weiter ist als das Verhalten vieler Menschen – doch die Brücke zwischen Wissen und Alltag bleibt ungebaut. Die Apothekennachrichten analysieren, warum das Potenzial der pharmazeutischen Dienstleistungen in der Struktur verloren geht, weshalb die ePA nicht zur Lösung wird, sondern zur Hürde, und wie neue Erkenntnisse aus der Alternsforschung, der Ernährungsmedizin und der Verhaltensprävention zu einer anderen Präventionspolitik führen müssten, wenn der Wille zur Veränderung gesellschaftlich und politisch wirklich ernst gemeint wäre.

Rund 475 Millionen Euro stehen für pharmazeutische Dienstleistungen (pDL) bereit, doch bei Apotheken kommt davon kaum etwas an – oder wird gar nicht erst beantragt. Während sich viele Inhaber:innen über ausbleibende Honorare beklagen und unter wirtschaftlichem Druck Leistungen streichen, bleibt ein zentraler Fördertopf nahezu unangetastet. Die Absurdität zeigt sich besonders drastisch im Fall niederländischer Versandapotheken: Selbst diese haben versucht, Leistungen über den Nacht- und Notdienstfonds (NNF) abzurechnen – mit einem eher symbolischen Ergebnis im mittleren dreistelligen Bereich. Dass bei einem solch hohen Fördervolumen aufseiten der Apotheken nicht mehr Engagement und Struktur in die Beantragung fließen, ist symptomatisch für eine Branche, die in ihrer Überlastung immer wieder Chancen liegen lässt. Dabei sind genau diese Dienstleistungen nicht nur einkommensrelevant, sondern heilberuflich unverzichtbar: Medikationsanalysen, Therapiebegleitung und patientennahe Aufklärung gehören längst zur Kernkompetenz einer modernen Apotheke – zumindest theoretisch.

Ähnlich ineffizient präsentiert sich der Rollout der elektronischen Patientenakte (ePA), der laut Bundesgesundheitsministerium „auf einem guten Weg“ sei – und dennoch gerade an seinem Zugang scheitert. 70 Millionen gesetzlich Versicherte wurden zum Start mit einer ePA ausgestattet, doch der Großteil weiß nicht, wie man sie sinnvoll nutzt – oder hat keine Lust, sich durch digitale Identifikationsverfahren zu kämpfen. Die Techniker Krankenkasse, als größter Einzelakteur mit elf Millionen Akten im System, verzeichnet lediglich 750.000 aktive Nutzer:innen. Der Rest verharrt im Zustand der digitalen Passivität: Daten werden zwar automatisch eingepflegt, aber nicht kontrolliert, nicht gesichtet, nicht gesteuert. TK-Chef Jens Baas plädiert deshalb für ein einfacheres Zugangsverfahren per Video-Ident – ähnlich dem Online-Banking. Doch obwohl technisch realisierbar, fehlt die gesetzliche Grundlage. Was bei Überweisungen Alltag ist, bleibt im Gesundheitswesen regulatorisch blockiert.

Diese strukturellen Versäumnisse in den digitalen Schnittstellen sind mehr als technische Probleme – sie stehen exemplarisch für eine tiefere Vertrauens- und Verständniskrise im System. Bürger:innen wollen Autonomie über ihre Daten, aber ohne bürokratische Hürden. Apotheken wollen ihre Kompetenzen einbringen, aber ohne formalistische Abrechnungswüsten. Die digitale Transformation bleibt stecken – nicht an der Technik, sondern an der fehlenden Nutzbarkeit, fehlender Begleitung und einem Alltag, der keine Zeit für Zusatzprozesse lässt. Die Apotheken wiederum werden zu Projektionsflächen: gefordert, gefördert, aber selten ernsthaft eingebunden.

Auch außerhalb institutioneller Prozesse zeigen sich Missverhältnisse zwischen Angebot und Wirklichkeit. Die Biontech-Onkologiestrategie etwa demonstriert eindrucksvoll, wie viel Innovationskraft aus der COVID-Impfstoffära in neue Forschungsfelder fließt – konkret in individualisierte mRNA-Krebstherapien. Mit Milliardenkooperationen wie jener mit Bristol Myers Squibb und der geplanten Übernahme von Curevac positioniert sich das Unternehmen strategisch für eine Zukunft jenseits der Pandemie. Gleichzeitig sinkt der Umsatz aus dem Impfgeschäft, die Verluste bleiben hoch, aber kalkuliert. Der angepasste Corona-Impfstoff, der im August in der EU eingeführt wird, ist eher ein Nebenschauplatz. Der Fokus liegt auf der wissenschaftlich hochkomplexen mRNA-Plattform, die sich nun therapeutisch beweisen muss. Die Botschaft: Forschung braucht langen Atem, klare Partnerschaften und einen Markt, der nicht nur auf Notlagen reagiert.

Diesen langen Atem braucht auch die Prävention – doch hier offenbart sich eine gesellschaftliche Paradoxie. Der neue DKV-Report zeigt, dass nur zwei Prozent der Bevölkerung einen rundum gesunden Lebensstil führen – trotz ständiger Aufklärungskampagnen, verfügbarer Infrastruktur und omnipräsenter Gesundheitsrhetorik. Die Menschen bewegen sich zu wenig, sitzen zu viel, essen unausgewogen, trinken zu viel Alkohol – und überschätzen oft ihre eigene Verfassung. „Sitzen ist das neue Rauchen“, sagt Prof. Ingo Froböse. Und auch wenn zwei Drittel der Menschen sich formal „ausreichend“ bewegen, reichen diese Mindestwerte bei weitem nicht aus, um die Folgen eines bewegungsarmen Alltags zu kompensieren. Prävention bleibt Selbstbetrug, solange sie nicht zur Struktur des Alltags wird – und solange das System die Ressourcen lieber auf Reparaturmedizin konzentriert als auf gesundheitskompetente Begleitung.

Nicht nur Verhalten, auch Deutung ist eine Schwachstelle im Präventionsdiskurs. Die Diskussion um Taurin zeigt, wie schnell aus einer wissenschaftlichen Andeutung ein Lifestyle-Hype wird – mit gefährlichen Folgen. Nachdem eine frühere Studie dem Stoff lebensverlängernde Eigenschaften zugesprochen hatte, fand Taurin seinen Weg in zahllose Nahrungsergänzungsmittel und Energieprodukte. Doch aktuelle Längsschnittdaten widersprechen dieser Euphorie: Der Taurinspiegel ist individuell stark schwankend, eine Kausalität zur Alterung nicht belegbar. Noch gravierender: In einer Nature-Studie wurde ein Zusammenhang zwischen Taurin und Leukämiezellwachstum entdeckt. Besonders bei myeloischer Leukämie scheint Taurin über spezielle Transportmechanismen in die Zellen zu gelangen und dort den Zuckerstoffwechsel – also das Wachstum – zu fördern. Die Empfehlung lautet daher klar: Keine präventive Einnahme, keine vorschnellen Versprechen, keine Therapie ohne Evidenz. Wer Prävention über Nahrungsergänzung definiert, riskiert Fehleinschätzungen mit medizinischer Tragweite.

Diese Orientierungslosigkeit in gesundheitsbezogenen Entscheidungen zeigt sich auch beim Konsum von Trendprodukten wie Pimple Patches. Was als Instagram-taugliche Pflegeroutine begann, hat inzwischen seinen Platz in Apothekenregalen gefunden. Doch die wissenschaftliche Evidenz ist dünn. Die meisten Patches basieren auf Hydrokolloidmaterial – eine etablierte Wundauflagetechnologie. Zusätze wie Salicylsäure oder Teebaumöl versprechen mehr, bringen aber in den kleinen Dosen kaum messbaren Zusatznutzen. Gleichzeitig greifen Verbraucher:innen zunehmend zu Schürfwundenpflastern als günstige Alternative – funktional, aber wenig praktikabel für das Gesicht. Hier zeigt sich exemplarisch, wie Marketing Bedürfnisse erzeugt, die nicht aus der klinischen Notwendigkeit, sondern aus sozialen Dynamiken erwachsen. Auch Apotheken stehen vor der Frage, ob sie derartige Produkte führen sollen – oder vielmehr fundierte Beratung in den Vordergrund stellen wollen.

Fundiert – aber ebenfalls mit Abwertungspotenzial – zeigen sich viele Mittel gegen Scheidenpilzinfektionen. Ein aktueller Öko-Test attestiert den untersuchten Präparaten mit Clotrimazol oder Nystatin hohe Wirksamkeit, kritisiert aber problematische Zusatzstoffe, formale Mängel in der Anwendungshinweise und ökologische Belastungen durch Verpackungsmaterial. MOAH-Nachweise in zwei Präparaten zeigen erneut, dass pharmazeutische Qualität nicht nur eine Frage des Wirkstoffs ist – sondern des gesamten Produktsystems. Auch hier stellt sich die Frage: Wie können Apotheken Beratungskompetenz geltend machen, wenn selbst etablierte Marken Schwächen zeigen, die über das Patientenverständnis hinausgehen?

Der Bericht zeigt, dass Struktur, Zugang und Verhalten nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Solange Förderungen nicht beantragt, Zugänge nicht geregelt und Präventionskonzepte auf Lifestyle reduziert werden, bleibt Gesundheit eine Illusion. Die Apotheke kann in dieser Gemengelage Orientierung bieten – wenn sie nicht in Bürokratie untergeht, sondern sich selbst als Lotse neu definiert.

Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt, wenn das Verstehen längst vorbei ist. Was nicht gesagt wurde, wirkt trotzdem. Nicht für alle. Nur für jene, die hören, was zwischen den Sätzen spricht.